Liebe unter Fischen
widerlegten sie die Regel, wonach man ab dreißig keine neuen Freunde mehr gewinnt. Es spielte auch keine Rolle, dass Lisi jünger war als Susanne. Susanne kannte viele jüngere Menschen. Das brachte ihr Beruf mit sich. Das hielt sie auch selbst jung.
Sie sahen einander in regelmäßigen Abständen. Susanne rief Lisi an, um sich auszuweinen, als ihr Vater gestorben war. Lisi rief Susanne an, um sich auszuweinen, als ihre Tochter ausgezogen und sie allein in der Wohnung zurückgeblieben war. Im Sommer fuhren sie gemeinsam an den Müggelsee schwimmen und nach Stralsund Fisch essen. Von ihren Männergeschichten erzählten sie einander immer, außer, die Episode war sogar dafür zu peinlich. Was dieses ebenso schöne wie leidige Kapitel betraf, schlugen ihre Herzen im Gleichklang. Die Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit war bei beiden um einen Hauch ausgeprägter als jene nach der Geborgenheit einer festen Beziehung. Meistens jedenfalls.
» Atme. Flüstere. Limnologie. Und vergiss nicht deinen tschechischen Akzent .«
» Wir haben doch gesagt, ich bin Slowakin !«
» Ich fürchte, diese Unterscheidung werde ich nicht mehr in mein Leben integrieren können .«
» Solltest du aber !«
» Ich weiß. Und woher kommst du ?«
» Aus Troisdorf, aus der Kölner Gegend, weißt du doch .«
» Nee. In der Rolle .«
» Natürlich .« Lisi memorierte diensteifrig. » Zvolen. Stadt in der Mittelslowakei. 42 . 000 Einwohner. Renaissance-Kirche, barocke Häuser auf dem Hauptplatz, Technische Universität, Institut für Limnologie. Nähe zum Tatra Nationalpark .«
» Okay«, sagte Susanne. » Und jetzt gehen wir noch mal deine Sprache durch. Die Sache mit dem Doppel-s- und scharfes-ß-Fehler ist doch süß, nicht wahr ?«
» Süz«, bestätigte Lisi. Um nach einer kurzen Pause hinzuzufügen: » Vielleicht auch vollkommen bescheuert. Wozu mache ich mir die Mühe ?«
» Welche Mühe ?«
» Mit dem ausländischen Akzent. Und dem slowenischen Lebenslauf. Ich meine, mit dem slowakischen Lebenslauf. Wozu das alles ?«
» Weil es die Rolle interessanter macht. Erstens für Alfred, weil du dann eine fast exotische Frau bist. Und zweitens für dich, weil du dich mehr aufs Spielen konzentrieren musst .«
» Ich weiß nicht .«
» Lisi, wenn du eine deutsche Forscherin bist, wird er dich besuchen wollen! Er wird deine Telefonnummer verlangen! Er wird auf Unis nachforschen können und die Sache ganz schnell aufdecken !«
» Das stimmt .«
» Slowakei ist viel besser. Da kennt er sich nicht aus. Und Sprachen kann er auch nicht .«
» Du hast sicher recht .«
» Also: Dein Name ist ?« Susanne wählte den Schnellfragetest.
» Mara .«
» Du arbeitest über ?«
» Fische .«
» Genauer ?«
» Irgendwas mit Ritzen .«
» Elritzen .«
» Das merke ich mir nicht !« , rief Lisi aus.
» Fred wohnt in einer … «
» Klazze Hütte .«
» Du wirst ihn nicht … «
» Küzzen .«
» Dein Name ist ?«
» Mara .«
» Deine Fische heißen ?«
» Elritzen. Warum darf ich ihn nicht küzzen ?«
» Du darfst, was du willst. Hauptsache, er schreibt .«
» Ich werde ihn nicht küssen«, sagte Lisi bestimmt. » Es ist eine Rolle, und ich bin ein Profi .«
» Die Einstellung gefällt mir .«
» Ich hab trotzdem irgendwie Angst .«
» Was soll schon sein ?«
» Weiß nicht. Zum Beispiel verstehe ich Freds Gedichte nicht .«
» Erstens musst du sie nicht verstehen«, sagte Susanne, » und zweitens versteht er sie selber nicht .«
» Sei nicht albern .«
» Nein, er hat das wirklich gesagt. Ein Gedicht, hat er gesagt, ist nicht dazu da, verstanden zu werden. Jedenfalls nicht mit dem Verstand .«
» Oh, oh, du meinst, man sieht nur mit dem Herzen gut .«
» Er hat es so erklärt: Versuch einmal, einen Apfel einfach nur anzuschauen. Ohne ihn zu bewerten – die Haut ist runzlig, ist der Bio oder gespritzt … ohne zu benennen – giftgrün, das müsste ein Granny Smith sein, oder ist das eine Art von Golden Delicious. Probier das mal, hat er gesagt. Und wenn du es mit einem Apfel geschafft hast, dann versuche es mit den Worten eines Gedichts. Lies sie laut. Lass sie klingen. Versuche nicht, sie zu verstehen. Lass sie wirken .«
» Das klingt spannend !«
» Ja, das war in der Zeit, als er noch geschrieben hat .«
» Ich werde es nicht schaffen !«
» Doch! Und du kannst mich jederzeit anrufen !«
» Und welches Kostüm soll ich tragen? Ich meine, was soll ich bloß anziehen ?«
Susanne und Lisi suchten gemeinsam ein
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