Liebe
Schnarch seinen Selbst-Trieb noch eigentümlicher ebenfalls in der Sexualtät. Selbst Sigmund Freud, der Großmeister einer allgemeinen Sexualisierung von nahezu allem, wiche hier erschrocken zurück.
Aber vielleicht muss man all dies nicht zu ernst nehmen, um zum Praktischen vorzudringen. Die entscheidende Frage lautet: Inwiefern ist ausgerechnet unser vermeintlicher Trieb zum »Selbst« der Leim, der unsere Beziehung bewahrt?
David Schnarchs Antwort hat vier Teile, eingekleidet in Regeln. Die erste dieser Regeln lautet: Wer eine glückliche Liebesbeziehung führen will, muss ein solides Selbstgefühl bewahren. »Unter einem soliden Selbstgefühl versteht man das internalisierte Selbst eines Menschen, dessen Stabilität nicht davon abhängt, was andere über ihn denken. Die meisten Menschen sind auf ein gespiegeltes Selbstgefühl angewiesen, das von den anderen Akzeptanz, Bestätigung und Entgegenkommen verlangt.« 80 Ein solides Selbst dagegen sei weitgehend autonom.
Wo vorher ein erschreckendes Unwissen in der Biologie herrschte, regiert nun das Unwissen in der Psychologie und Philosophie. Der Satz »Die meisten Menschen sind auf ein gespiegeltes Selbstgefühl angewiesen«, ist falsch. Alle Menschen sind, wie Sartre gezeigt hat und jeder Entwicklungspsychologe bestätigen wird, auf ein gespiegeltes Selbstgefühl angewiesen. Wer sein Selbstgefühl nicht zugespiegelt bekommt, hat ein schweres Problem. Denn das Resultat ist nicht ein »solides Selbstgefühl«, sondern pathologischer Autismus.
Auch Schnarch ist also ein Beschädigungstheoretiker, wie zuvor Erich Fromm oder Peter Lauster. Die meisten Menschen sind unvollkommen und irgendwie zu blöd. Das Ziel aber ist, wie gehabt, Perfektion und Anspruchslosigkeit.
Vor diesem Hintergrund kann auch die zweite Regel nicht überraschen, nämlich »dass eine Person ihre Ängste selbst steuert und ihre Schmerzen selbst lindert«. 81 Das ist ein schöner Anspruch, und es klingt verführerisch, dies können zu wollen. Doch wer das tatsächlich könnte, wäre wohl nicht nur ein großer Liebender, sondern ein Über- und Unmensch. Wer seine Ängste steuern kann, dem machen sie nichts mehr aus. Und wer alle seine Schmerzen selbst lindert, dürfte Zweifel daran
aufkommen lassen, ob er noch zur Spezies Homo sapiens gehört.
Der eigentliche Clou an diesen Regeln aber ist: Ein so autonomer Mensch, wie Schnarch ihn sich wünscht, wäre wohl gar nicht mehr liebesbedürftig! Und wenn man die Bedürfnisstruktur nimmt, fehlt der Motor, der alles andere bewegt. Schnarchs Idealtypus ist eine völlig selbstgenügsame Erscheinung, mithin ein Unsympath. Der beste Liebende wäre gerade der, dem die Liebe eigentlich ziemlich egal sein kann.
Auch als Geliebter oder als Geliebte wäre er nicht sonderlich begehrt. Denn selbst wenn man perfekt wäre, könnte sich der unperfekte Partner durchaus von uns trennen. Zum Beispiel, weil er unsere Qualitäten nicht entsprechend wahrnimmt. Oder weil er, wahrscheinlich zu Recht, sich in unserer Gesellschaft ziemlich mies fühlt und berechtigterweise davon ausgeht, dass man nicht zueinander passt. Wer will schon einen perfekten Menschen? Ich kann durchaus unter den Schwächen meines Partners leiden – aber ich liebe ihn gleichwohl dafür.
Schnarchs Regeln Nummer drei und Nummer vier sind harmloser und realistischer. Man soll gegenüber seinem Partner nicht überreagieren und auch mal einiges Unbehagen in der Beziehung auf sich nehmen, um sich zu entwickeln. Das ist richtig und weise. Und auch sehr beruhigend, denn für diese Maximen bedarf es Gott sei Dank keiner übermenschlichen Fähigkeiten und auch keines »Triebs« zum Selbst.
Für eine Ehrenrettung der Paartherapie à la Schnarch ist es allerdings zu spät. Im Vergleich zu dem Therapeuten aus Evergreen sind Erich Fromm und Peter Lauster harmlose Träumer. Natürlich ist es nicht falsch, dass es einem Liebenden nicht schadet, wenn er sich selber mag und keine überzogenen Erwartungen an seine Liebe oder an seinen Partner hegt. Aber die Forderung, sich selbst zu lieben und psychisch unabhängig zu sein vom Urteil der anderen, ist eine finstere Botschaft. Nicht nur erhebt sie den Autisten zum Ideal. Sie bedroht auch jeden normalen
Menschen mit seiner gemeinhin wankelmütigen Selbstliebe als einen mutmaßlichen Therapiefall. Um es einfach und klar zu sagen: Eine glückende Liebe zu leben ist nicht einfach, und der Anspruch ist häufig eine Überforderung. Sich selbst zu lieben ist aber noch sehr
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