Liebe
nicht teilen zu müssen, Krokodilmännchen fressen ihre Jungen, weil sie sie nicht als ihren Nachwuchs erkennen usw. Verwandtschaftliche Beziehungen, wie etwa bei Elefanten oder Menschenaffen, sind eher die Ausnahme als die Regel. Und auch bei Menschenaffen und Menschen gilt: Eine zwingende Nähe und Liebe unter
Verwandten gibt es nicht. Es ist schon richtig, dass uns Geschwister meist nahestehen, aber die Zahl an Geschwistern, die im Erwachsenenalter wenig miteinander anfangen können, ist gar nicht so klein. Eine Gen-Störung? Und wie kommt es eigentlich, dass Freunde uns oft viel näher stehen als blutsverwandte Angehörige? Wo liegt der genetische Sinn, wenn ich das Kind einer guten Freundin versorge? Warum kümmere ich mich liebevoll um meine Stiefkinder, statt auf jedes fruchtbare junge Weibchen zu lauern?
Die wissenschaftliche Wende kam in den 1990er Jahren. Also in etwa genau zu jenem Zeitpunkt, als die auf Hamilton und Dawkins eingeschworene evolutionäre Psychologie im Zenit ihres Ansehens stand. Viele Biologen waren inzwischen so unzufrieden, dass sie verstärkt nach neuen Erklärungen suchten. Es war ihnen klar, dass sich der komplizierte Prozess der Evolution nicht einfach auf der Ebene der Gene erklären ließ. Denn die Gene waren bei weitem nicht mit solchen Zauberkräften ausgestattet, wie zuletzt behauptet worden war. Sie waren auch nicht der Bauplan oder die Blaupause für das gesamte Lebewesen, sondern lediglich eine interessante Ressource für dessen normale Entwicklung.
Der Evolutionsbiologe Richard Lewontin, einer von Dawkins’ wichtigsten Kritikern, brachte es anhand eines Beispiels auf den Punkt: In einem Sack befinden sich Millionen von Weizenkörnern. Die eine Hälfte des Sackes sät der Bauer auf einem fruchtbaren Acker aus, der gut gedüngt ist und gewässert. Die andere Hälfte des Sackes verstreut er auf einem kargen Acker. Wie werden sich die Weizenkörner entwickeln? Auf dem fruchtbaren Feld sind die Weizenähren verschieden groß. Das ist normal, denn obwohl die Umwelt für alle Körner auf dem Acker gleich ist, sind sie doch genetisch unterschiedlich. Die einen sind »von sich aus« prächtiger als die anderen. Und wie sieht es auf dem anderen, dem kargen Acker aus? Das gleiche Bild: Die einen Weizenhalme sind kräftiger als die anderen. Auch das liegt an ihren
Genen. Wenn man nun beide Felder miteinander vergleicht, wird man allerdings feststellen, dass der Weizen auf dem fruchtbaren Feld insgesamt ungleich prächtiger geraten ist als auf dem kargen. Auf dem ersten Feld sind die Unterschiede zu 100 Prozent genetisch, und auf dem zweiten Feld sind die Unterschiede zu 100 Prozent genetisch. Aber das bedeutet nicht, dass die Unterschiede von Feld 1 zu Feld 2 auch genetisch sind!
Lewontins Beispiel zeigt, dass die Entwicklung eines Lebewesens nicht allein von den Genen abhängt. Das Überleben und die Ausformung eines Organismus finden nämlich gleichzeitig auf mehreren Ebenen statt. So wichtig wie die Gene ist auch das Individuum und unter Umständen, von Art zu Art unterschiedlich, auch die Gruppe, in der ein Lebewesen sich befindet. Danach bleiben die Gene zwar die »Datenträger«, die ihre Eigenschaften von Generation zu Generation übertragen. Aber sie sind weder der alleinige Auslöser noch das alles entscheidende Kriterium im Prozess der Evolution. Ihre Zauberkraft schrumpft beträchtlich. Mindestens ebenso wichtig ist die »Arena«, in der das Schauspiel stattfindet, also der fruchtbare oder der karge Acker.
Eine solche Arena ist der Lebensraum einer Art, aber auch ihre soziale Umgebung. Mal ist es die Gruppe, die den Ausschlag gibt, mal sind es tatsächlich Verwandte, ein anderes Mal aber kann es auch eine Gruppe sein, die ganz zufällig einen Lebensraum teilt. In Südamerika stand bis vor zwei Millionen Jahren der Terrorvogel, ein straußengroßer langbeiniger Raubvogel, an der Spitze der Nahrungspyramide. Als der südamerikanische Kontinent mit dem nordamerikanischen über eine Landbrücke zusammenwuchs, wanderten die Säbelzahnkatzen aus dem Norden in den Süden ein. Sie wurden zu gefährlichen Nahrungskonkurrenten in der Pampa, denn sie jagten die gleiche Beute wie die Vögel. Innerhalb kurzer Zeit waren die unterlegenen Terrorvögel ausgestorben. Mit Genen hat das schlichtweg überhaupt nichts zu tun.
Die Idee, den Evolutionsprozess auf mehreren verschiedenen
Ebenen – bei den Genen, ihrem Austausch mit der Zelle und bei den Umweltbedingungen – anzusiedeln, ist
Weitere Kostenlose Bücher