Liebe
beantworten, muss man sich nur einmal vorstellen,
wie es unter Menschen zuginge, wenn Ghiselin tatsächlich recht hätte. Zunächst steht der, der immer aus Eigennutz handelt, vor der Frage, was seinen Interessen dient und was nicht. Das ist schwieriger, als man denkt. Denn um in vollem Umfang eigennützig handeln zu können, muss ich meine Interessen vollständig kennen. Wer von uns aber vermag dies zu sagen? Meine Interessen sind nämlich etwas, das ich abschätzen muss. Die meisten Menschen, die ich kenne, verwenden darauf allerdings ziemlich wenig Zeit. Wer frühstückt, zur Arbeit geht, einkauft, seine Kinder versorgt, mag vielleicht im weitesten Sinne eigennützig handeln. Aber über seine konkret eigennützigen Interessen denkt er dabei kaum nach. Kurz gesagt: In unserem Alltagsleben nimmt Eigeninteresse nur einen recht geringen Raum ein.
Ghiselins Denkfehler liegt darin zu vermuten, dass Menschen immer danach streben, etwas haben zu wollen und auch von anderen etwas zu kriegen. Tatsächlich aber haben wir ein mindestens ebenso starkes Interesse daran, bestimmte Dinge zu tun und jemand zu sein. Tagtäglich sorgen wir uns um den Blick, den andere auf uns werfen. Unser Selbstbild ist uns wichtig, und wir formen es unausgesetzt durch unser Verhältnis zu anderen. Wer wir sind, wissen wir dadurch, dass wir wissen, wer wir nicht sind. Das Bild, das wir von uns selbst haben, ist wichtiger als nahezu alles, das wir an konkreten Dingen haben wollen.
Unser Eigeninteresse geht unserem gesellschaftlichen Handeln nicht wie ein dunkler böser Trieb voraus, sondern es ist untrennbar mit dem Wohl anderer verbunden. Oder wie die Philosophin Christine Korsgaard von der Harvard University schreibt: »Die Moral besteht nicht nur aus einer Reihe an Hindernissen, die unserem Interesse entgegenstehen.... Die Vorstellung, es könnte jemanden geben, der nie irgendjemand anderen als Zweck an sich selbst behandelt und nie erwartet hat, dass er im Gegenzug ebenfalls so behandelt wird, ist noch unhaltbarer als die Vorstellung von jemanden, der dies immer tut. Denn dann stellen wir uns jemanden vor, der immer alle anderen als Werkzeug
oder als Hindernis behandelt oder immer erwartet, selbst wiederum ebenso behandelt zu werden. Wir stellen uns dann jemanden vor, der in einem Alltagsgespräch niemals spontan und bedenkenlos die Wahrheit sagt, sondern immer die Wirkung berechnet, die das gegenüber anderen Gesagte für die Beförderung der eigenen Vorhaben hat. Wir stellen uns dann jemanden vor, der es nicht hasst (obwohl es ihm missfällt), wenn er angelogen wird, mit Füßen getreten wird und missachtet wird, weil er tief im Grunde denkt, dass das alles ist, was ein menschliches Wesen von einem anderen vernünftigerweise zu erwarten hat. Wir stellen uns also ein Geschöpf vor, das in einem Zustand tiefer innerer Einsamkeit lebt.« 57
Wer den Menschen realistisch betrachtet, wird ihn nicht als Geisel seines Eigennutzes sehen können. Und man sollte sich davor hüten, uns als schlecht getarnte Bestien zu beschreiben und den Psychopathen als Normalfall. Die Moral ist keine freundliche Tünche auf unserer bösen Natur. Denn was sollte uns dieser widernatürlich alberne Anstrich nützen? Der Schwarm von Piranhas, der freiwillig beschließt, vegetarisch zu leben, muss erst noch gefunden werden.
Mitgefühl, Zuneigung, Hingabe und Verantwortlichkeit sind ein Erbe der Natur, das wir nicht nur mit Menschenaffen teilen. In diesem Umfeld zeigt die Beobachtung von Jane Goodall, wie intensiv gerade das Band zwischen Müttern und Kindern bei höheren Wirbeltieren ist, intensiver, als der Eigennutz es erfordert. Denn selbst wenn es richtig ist, dass die Bindung der Mütter an ihre Kinder ursprünglich dem Eigennutz ihrer Gene diente – wenn Schimpansen-Mütter und ihre Kinder diese tiefe Bindung bis weit hinaus über das biologisch Notwendige verspüren, wo bleibt da dieser biologische Eigennutz? Macht man sich nicht lächerlich, wenn man hier wie Ghiselin von »Opportunismus« und »Ausbeutung« spricht? Weder hat Flint seine Mutter ausgebeutet noch Flo ihren Sohn. Denn ginge es nur um Opportunismus, so hätte Flo ihren Sohn Flint in jenem Moment versto-βen,
als er alt genug war, um ohne sie zurechtzukommen. Ihre egoistischen Gene waren ja dann in Sicherheit.
Allem Anschein nach also hat die Bindung zwischen Müttern und Kindern mindestens bei einigen nahen Verwandten des Menschen eine Intensität erreicht, die man mit einem neuen Wort beschreiben
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