Liebe
Ende wettbewerbsorientiert. Versteht man, warum und wie diese Ökonomie funktioniert, dann kennt man auch die Gründe, auf denen soziale Phänomene basieren. Sie sind der Weg, auf dem ein Organismus auf Kosten eines anderen einen Vorteil erringt. Nicht ein Quentchen echter Nächstenliebe versüßt uns unsere Vorstellung von Gesellschaft, wenn man Sentimentalitäten
einmal beiseitelässt. Was wie Kooperation aussieht, stellt sich als eine Mischung aus Opportunismus und Ausbeutung heraus. Die Triebfeder für das selbst aufopfernde Verhalten eines Tieres liegt letztlich immer in dem Eigennutz, Vorteile zu erzielen, und sei es über Dritte. Und wenn >zum Wohl< der einen Gesellschaft gehandelt wird, heißt das nichts anderes, als dass zu Lasten der übrigen gehandelt wird. Solange es ihm selbst nützt, ist von jedem Organismus zu erwarten, dass er seinen Genossen hilft. Nur wenn er keine Alternative hat, stellt er sich in den Dienst des Allgemeinwohls. Bietet sich ihm jedoch eine echte Chance, in seinem eigenen Interesse zu handeln, kann ihn nichts außer Selbstsucht davon abhalten, seinen Bruder, seinen Partner, seine Eltern oder sein Kind brutal zu behandeln, zu verstümmeln oder umzubringen. Kratz einen Altruisten, und du siehst einen Heuchler bluten.« 55
Und dies ist die zweite: »Wenn die Mutter stirbt, können Kinder unter drei, die noch überwiegend abhängig sind von der Milch, natürlich nicht überleben. Aber auch Jugendliche, die unabhängig sind, was die Ernährung angeht, können so niedergeschlagen reagieren, dass sie die Lebenskraft verlieren und sterben. Flint zum Beispiel war achteinhalb, als die alte Flo starb, und hätte in der Lage sein müssen, für sich selbst zu sorgen.... Seine ganze Welt hatte sich um Flo gedreht, und ohne sie war das Leben leer und bedeutungslos. Ich werde nie vergessen, wie ich Flint drei Tage nach Flos Tod beobachtete, als er in einen hohen Baum am Fluss stieg. Er ging einen der Äste entlang, hielt an, stand regungslos da und starrte in ein leeres Nest. Nach zwei Minuten wandte er sich ab und stieg mit den Bewegungen eines alten Mannes wieder hinunter, ging ein paar Schritte, legte sich nieder und starrte mit weit geöffneten Augen vor sich hin. Das Nest hatten er und Flo kurz vor ihrem Tod geteilt.... Flint wurde zunehmend lethargisch, verweigerte die meiste Nahrung und wurde, als sein Immunsystem dadurch geschwächt war, krank. Als ich ihn das letzte Mal lebend sah, war er hohläugig, abgemagert
und völlig deprimiert und kauerte im Gebüsch nahe der Stelle, wo Flo gestorben war.... Seine letzte kurze Wanderung, bei der er alle paar Schritte anhalten und ausruhen musste, führte zu genau der Stelle, an der Flos Leiche gelegen hatte. Dort blieb er mehrere Stunden und starrte immer wieder ins Wasser. Dann schleppte er sich ein Stück weiter, rollte sich zusammen – und regte sich nie wieder.« 56
Die erste Erzählung stammt von Michael T. Ghiselin, dem Erfinder des Wortes »evolutionäre Psychologie«, aus seinem Buch The Economy of Nature and the Evolution of Sex (»Die Ökonomie der Natur und die Evolution der Sexualität«). Die zweite Geschichte erzählt Jane Goodall in: Ein Herz für Schimpansen. Meine 30 Jahre am Gombe-Strom. In ihrem Buch widmet die berühmte englische Schimpansenforscherin ein ganzes Kapitel der »Liebe«, vor allem dem Leiden der Kinder beim Tod ihrer Mutter oder eines geliebten Geschwisters. Wo Ghiselin von ökonomischem Eigennutz spricht, sieht Goodall bei Schimpansen überall Anzeichen echten Mitfühlens. Sie berichtet von »rührenden Geschichten«, die »den Charakter der liebevollen, fürsorglichen Haltung« von Schimpansen beschreiben. Und dieses Mitfühlen sei nicht allein eine biologische Bindung aus Eigennutz. Der Schimpansen-Junge Flint war ohne seine Mutter biologisch betrachtet vollständig lebensfähig. Er war biologisch autonom – aber nicht emotional.
Welche Geschichte plausibler ist, darüber darf sich jeder seine eigene Meinung bilden. Ich für meinen Teil halte die Deutung von Jane Goodall nicht nur für sympathischer, sondern auch für besser beobachtet. Unsere gefühlvollen Bindungen zu anderen Lebewesen mögen nicht frei von Eigennutz sein. Aber dass sie eigentlich nur eigennützig sind, ist eine Unterstellung. Mit einer Wirtschaftswissenschaft vom Leben, wie bei Ghiselin, ist die »Liebe« nicht erklärbar – also kommt sie auch nicht vor.
Doch ist das, was Menschen tun, ohne Liebe verständlich? Um diese Frage zu
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