Liebe
ausrücken lässt und in die Schlacht führt, wenn wir einem entsprechenden Objekt begegnen. Um seine Karten besonders aussagefähig zu machen, hat auch Money nicht der Versuchung widerstanden, alle diese Präferenzen schon bei Kindern als »erotische« Festlegungen zu deuten. In diesem Punkt liegt er gefährlich nahe bei Freud.
Was ist von all dem zu halten? Dass sich unsere Liebeskriterien und Liebesbedürfnisse in der Kindheit ausprägen, ist sehr wahrscheinlich. Dass sie dabei erst im Alter von fünf Jahren entstehen, bleibt eher eine Spekulation. Liebeskarten, das liegt
in der Natur der Sache, kann man weder beweisen noch vermessen. Denn die Vorzugsgesichtspunkte unserer Liebe können ganz unterschiedlicher Natur sein und auch von ganz verschiedener Komplexität. Manche Menschen sind ihr Leben lang auf einen Typus – etwa braunäugig und dunkelhaarig oder blauäugig und blond – festgelegt. Andere dagegen haben bei Äußerlichkeiten überhaupt kein Schema. Manche Menschen, die im Ruf stehen, »das gewisse Etwas« zu haben, lassen andere völlig kalt. Viele Menschen suchen bei anderen ganz bestimmte Charaktermerkmale, die sie erregen oder die ihnen Vertrauen einflößen. Andere dagegen kennen in der Wahl ihrer Partner kaum eine Kontinuität.
Ob eine Haarfarbe für mich wichtig ist, ein Duft, die Körpergröße, ein Charaktermerkmal oder eine Verhaltensweise, hängt gewiss davon ab, auf welche – meist unmerkliche – Weise wir sie als Kinder besetzt haben. Aber ist es dafür notwendig, dass wir sie bereits als Kinder erotisch besetzen? Ist es nicht viel mehr so, dass wir sie zunächst symbolisch als gut oder schlecht, anziehend oder abstoßend bewerten? Unsere Besetzung in der Kindheit dürfte eher allgemein sein: Verbinden wir bestimmte Merkmale, Eigenschaften und Verhaltensweisen mit etwas Negativem oder etwas Positivem? Ein dominanter Elternteil kann positiv erlebt werden, sofern sich die Dominanz nicht aggressiv gegen das Kind richtet; ebenso gut aber kann es als Fluch erlebt werden, wenn sich die Dominanz in Gewalt und Unterdrückung niederschlägt. Die Gründe für unsere Bewertungen können auf diese oder ähnliche Weise offensichtlich sein – aber auch dunkel. Denn schon Kinder, so scheint es, können etwas lieben und hassen zugleich. Sie können widersprüchlich empfinden und haben ambivalente Gefühle. Auch diese hinterlassen Fingerabdrücke in unserer Seele.
Ein unmittelbarer erotischer Kitzel ist damit vermutlich nicht unbedingt oder eher selten verbunden. Wahrscheinlicher ist, dass sich eine als »gut« oder »schlecht« gespeicherte Erfahrung
später in der Erotik niederschlägt und auch in den Vorlieben bei der Wahl eines Partners, mit dem wir leben wollen. Eine vor-erotische Erfahrung wird später also gleichsam umcodiert in eine erotische. Das kann in der Pubertät der Fall sein, aber oftmals auch deutlich später in vielen sexuellen Selbsterfahrungen. So können wir zum Beispiel feststellen, dass Merkmale und Verhaltensweisen, die uns an einem anderen erotisch stimulieren, ihn zugleich für eine Partnerschaft diskreditieren. Das Gleiche gilt auch umgekehrt. Der ideale Herzensgefährte ist nur selten auch der geeignete Bettgefährte, jedenfalls zumeist nicht langfristig.
Unsere Liebeskarten haben also oft eine ziemlich irritierende Topographie. Und wahrscheinlich sind sie auch nie ganz zu Ende gezeichnet. Wie oft kommt es vor, dass junge Frauen deutlich ältere Männer bevorzugen, um dann im Alter von 40 an nach jüngeren Männern Ausschau zu halten? Was sagt in diesem Fall die Liebeskarte? Maximal signalisiert sie ein Faible für Aufregung, das sich aber in unterschiedlichen Lebensphasen mit ganz unterschiedlichen Männern, auch Männertypen, verbindet. Liebeskarten, so scheint es, sind sehr variabel, und mancher Hügel und manches Tal lassen sich durchaus auch noch im Erwachsenenalter neu einzeichnen.
Festlegungen in der Strenge eines genetischen Codes sind Liebeskarten also nicht. Sie schreiben die Entwicklung unseres Liebesverhaltens nicht vor wie die Gene das Wachstum unseres Körpers. Insofern projizieren wir auch keine feste und unverrückbare Vorstellung auf den von uns geliebten Menschen, wie Money vermutet.
Dass hingegen unsere frühkindliche und kindliche Erfahrung unser erotisches und unser Partnerschaftsverhalten als Erwachsene stark mitprägt, ist unbestritten. Vieles nimmt darauf Einfluss: die Rolle, die ein Kind in der Familie spielt, und die Aufmerksamkeit, die es
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