Liebe
US-amerikanischen Sozialpsychologen Stanley Schachter aus dem Jahr 1962. Der Professor an der University of Michigan in Chicago hat ein Faible für die vielen Merkwürdigkeiten des menschlichen Verhaltens. Schon in seiner Doktorarbeit hatte er sich mit der Frage beschäftigt, was wohl in der Psyche von Weltuntergangsaposteln vor sich geht, wenn sie erleben müssen, dass ihre Prophezeiungen sich nicht erfüllen. Schachter interessiert die große allgemeine Frage: Wie denken wir uns die Welt zurecht? Und wie kommen wir dabei zu Fehlzündungen wie Magersucht, Fresssucht, Hypochondrie, Abhängigkeit von Zigaretten oder Geiz?
Nach Schachter haben alle diese Vorgänge etwas mit »Fehlattributionen« zu tun, denn eine Emotion für Magersucht oder Geiz ist nicht existent. Das Verhalten und die Emotion, die es auslöst, entsprechen sich nicht. Ganz offensichtlich wird etwas
umgeleitet oder umgewandelt, und zwar durch die interpretierende Arbeit unserer Psyche. Die Theorie, die Schachter dazu aufstellte, nennt sich »Theorie der zwei Komponenten« ( Two factor theory of emotion ). Und ihre Pointe ist ziemlich einfach: Alle unsere Gefühle bestehen aus zwei Faktoren – aus einem körperlichen Reiz oder einer Stimulation auf der einen Seite und aus einer entsprechenden (oder nicht ganz entsprechenden) Interpretation auf der anderen.
Mit anderen Worten heißt das: Wir haben immer die Gefühle, die wir interpretieren! Das Gleiche war schon gemeint, als ich im Kapitel zuvor sagte, Gefühle entstehen, wenn Emotionen Vorstellungen auslösen. Denn Vorstellungen sind eine Leistung unserer höheren Hirnfunktionen, die eine Emotion deuten und ausspinnen. Und Gilbert Ryle würde wohl hinzufügen: So ist es, aber für die meisten Gefühle fehlen uns die Worte! Wir greifen auf allgemeine Begriffe zurück. Und haben wir sie einmal benutzt, glauben wir, dass das, was wir fühlen, ihnen tatsächlich entspricht.
Kinder freuen sich darüber, wenn Erwachsene ihnen für das, was sie fühlen, eine eindeutige Erklärung geben. Die Welt kommt dadurch wieder in Ordnung. Und auch Erwachsene sind meist beruhigt, wenn diffuse Gefühle von Unbehagen durch eine plausible Definition scheinbar erklärlich werden. Mit einem klar diagnostizierten »Minderwertigkeitskomplex« samt passender Herleitung fühlen wir uns im Zweifelsfall noch immer wohler als mit den vagen, nur halb erkannten Hilflosigkeits- und Ohnmachtsgefühlen gegenüber anderen Menschen – auch wenn es mit einem »Minderwertigkeitskomplex« als einer wissenschaftlichen Erklärung in Wahrheit nicht weit her ist.
Duttons und Arons Experiment auf der Hängebrücke scheint diesen Mechanismus zu bestätigen. In einer Situation starker Aufregung lassen sich Gefühle ummünzen und anderweitig fruchtbar machen. Die praktische Pointe der Geschichte ist die Erkenntnis, dass gerade sexuelles Interesse und Verliebtheit
hochgradig abhängig sind vom Kontext. Die Wahrscheinlichkeit, sich bei einem Rockkonzert, beim Tanzkurs, auf einer rauschenden Weihnachtsfeier, im Kölner Karneval oder eben auf einer abenteuerlichen Hängebrücke zu verlieben, ist ungleich höher als etwa beim Einkaufen im Supermarkt.
Das Brückenexperiment ist heute nur noch eines unter Hunderten zum Thema Erregung und Fehlattribution. Weitere Studien haben dabei gezeigt, dass solche Experimente umso besser klappen, je sorgfältiger sie mit der Körperchemie abgestimmt sind. Ein hochgradig erregter Körper nach einer anstrengenden Radfahrt oder einem Halbmarathon braucht im Durchschnitt 70 Minuten, bis er wieder auf Normalniveau runterkommt. Etwa 10-15 Minuten nach der Anstrengung liegt der günstigste Moment für eine Fehlattribution. Der Körper ist noch immer erregt, aber unsere Psyche verbindet diese Erregung nicht mehr stringent mit dem Auslöser, der sportlichen Betätigung. Die attraktive Dame im Ziel bekommt nun das ganze Augenmerk.
Außergewöhnliche Situationen begünstigen außergewöhnliche Gefühle. Und das Gefühl, etwas Besonderes zu erleben, kann eine Erregung so in die Höhe treiben, dass sie dazu führt, sich zu verlieben. Wohlgemerkt: Es kann, aber es muss natürlich nicht. Es gibt Paare, die in den banalsten Situationen zueinandergefunden haben. Und nicht jede aufregende Situation führt dazu, dass wir lieben. Wer uns vor der Hängebrücke unsympathisch war, ist nachher nicht attraktiver geworden. Eher im Gegenteil: Auch negative Emotionen verstärken sich im Erregungszustand. Gleichwohl kennen viele Menschen
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