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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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geht hinaus. Aber er hat direkt in die Flammen geguckt! Verstehst du?«
    »Ja«, sagte ich. »Meinst du, er wollte nicht in irgendwas hineingezogen werden?«
    »Nein, ganz und gar nicht. Das war es nicht. Es ging eher darum, dass er sie sah, aber nicht glauben konnte, was er sah, Flammen in einem Geschäft, und daraufhin vertraute er mehr seinen Gedanken als seinen Augen.«
    »Was ist dann passiert?«
    »Der dritte Kunde, der direkt nach dem zweiten hereinkam, schrie sofort ›Feuer!‹, als er die Flammen sah. Inzwischen brannte ja der ganze Ständer lichterloh. Sie waren nicht zu übersehen. Seltsam, oder?«
    »Ja«, sagte ich.
    Wir hatten die Brücke erreicht, die zu der Insel hinüberführte, auf der das Schloss lag, gingen im Zickzackkurs zwischen den vielen Touristen und den Einwanderern, die dort angelten. In den folgenden Tagen dachte ich des Öfteren an die Geschichte, die sie mir erzählt hatte, woraufhin sie sich mehr und mehr von ihr löste und zu einem unabhängigen Phänomen wurde. Ich kannte sie nicht, wusste fast nichts über sie, und dass sie Schwedin war, hatte zur Folge, dass ich an der Art, wie sie redete und sich kleidete, auch nichts ablesen konnte. Ein Bild aus ihrer Gedichtsammlung, die ich seit damals in Biskops-Arnö nicht mehr gelesen und nur einmal aus dem Regal gezogen hatte, als ich Yngve das Foto von ihr zeigen wollte, war mir in Erinnerung geblieben, das des lyrischen Ichs, das sich wie ein Schimpansenbaby an einen Mann klammert und dies im Spiegel sieht. Warum ausgerechnet das zu mir durchgedrungen war, wusste ich nicht. Als ich nach Hause kam, suchte ich das Buch heraus. Wale und Erde und große Tiere, die rund um ein ebenso scharfes wie verletzliches Ich donnern.
    War das sie?
    Ein paar Tage später gingen wir ins Theater. Linda, Geir und ich. Der erste Akt war schlecht, er war hundsmiserabel, und in der Pause, als wir auf der Terrasse an einem Tisch mit Aussicht auf den Hafen saßen, unterhielten sich Geir und Linda darüber, wie schlecht die Inszenierung war und warum. Ich hatte eine etwas wohlwollendere Einstellung, denn trotz des Kleinen und Engen dieses Akts, die das Spiel und die Visionen geprägt hatten, die vermittelt werden sollten, gab es doch die Erwartung von etwas anderem, als würde da noch etwas kommen. Vielleicht nicht unbedingt im Spiel der Schauspieler, vielleicht eher in der Kombination Bergman-Ibsen, musste dabei am Ende nicht trotz allem etwas herauskommen? Vielleicht verführte mich aber auch nur der prunkvolle Raum zu dem Glauben, dass da noch etwas passieren würde. Aber es passierte tatsächlich. Alles stieg, höher und höher, die Intensität steigerte sich, und innerhalb des eng gesteckten Rahmens, der am Ende nur Mutter und Sohn Raum bot, entstand eine Art Grenzenlosigkeit, etwas Wildes und Rücksichtsloses, in dem Handlung und Raum verschwanden. Zurück blieb allein das Gefühl, und es war stark und speiste sich daraus, dass man direkt in den Kern der menschlichen Existenz blickte, in das Zentrum des Lebens, und daraufhin befand man sich an einem Ort, an dem es keine Rolle mehr spielte, was tatsächlich geschah. Alles, was Geschmack und Ästhetik hieß, war eliminiert. Brannte nicht eine riesige rote Sonne am hinteren Rand der Bühne? Rollte Oskar nicht nackt über den Bühnenboden? Ich bin mir heute nicht mehr sicher, was ich sah, alle Details verschwanden in dem Zustand, den sie erweckten, einer absoluten Präsenz, die gleichzeitig glühend und eiskalt war. Aber wenn man sich auf den Weg dorthin nicht eingelassen hätte, würde einem alles, was dort geschah, übertrieben erscheinen, vielleicht sogar banal oder kitschig. Die Meisterschaft
lag im ersten Akt, in ihm wurde alles herausgearbeitet, und nur jemand, der ein ganzes Leben darauf verwandt hatte, etwas zu erschaffen und auf eine riesige, mehr als fünfzigjährige Produktion zurückblickte, konnte genug Klugheit, Kühle, Mut, Intuition und Einsicht besitzen, um so etwas zu verwirklichen. Das ließ sich nicht gedanklich erarbeiten, das war unmöglich. Kaum etwas von dem, was ich bis dahin gesehen oder gelesen hatte, kam dem Wesentlichen auch nur im Ansatz in dieser Weise nahe. Als wir dem Zuschauerstrom ins Foyer und auf die Straße hinaus folgten, sagte keiner von uns etwas, aber den abwesenden Gesichtsausdrücken der anderen sah ich an, dass auch sie sich hatten mitreißen lassen an diesen schrecklichen, aber wahren und deshalb schönen Ort, den Bergman bei Ibsen gesehen und dann gestaltet hatte.

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