Lieben: Roman (German Edition)
exotisch fand. Die Reden, die Volkstrachten, die Blaskapellen, der Kinderumzug. Am Morgen hatten sie am Waldrand Rehe gesehen und auf dem Heimweg spielende Schweinswale im Fjord. Meine
Mutter hatte ihr gesagt, das sei ein gutes Zeichen, es bringe Glück.
Es waren nicht oft Schweinswale dort, ich selbst hatte sie nur zwei Mal gesehen, und beim ersten Mal aus nächster Nähe, zusammen mit Großvater im Boot auf dem Fjord, es war neblig und vollkommen still gewesen, und dann kamen sie angeschwommen, erst nur als Geräusch, wie vom Bug eines Segelboots, das durchs Wasser pflügt, aber dann als glänzende, dunkelgraue und glatte Leiber. Auf und ab, auf und ab schwammen sie. Großvater hatte damals das Gleiche gesagt wie Mutter, sie zu sehen, bringe Glück. Linda war aufgekratzt, aber zugleich auch müde, das war sie auf der ganzen Reise gewesen, und von der ganzen Autofahrerei auf den kurvigen Straßen war ihr schlecht geworden, so dass sie früh zu Bett gegangen war, erzählte sie. Am Abend des Vortags war sie bei Großmutters jüngster Schwester Alvdis gewesen, zehn Jahre älter als Mutter, und ihrem Gatten Anfinn, einem kleinen, aber kräftigen Mann mit einem heiteren Gemüt und einer starken Ausstrahlung, die Linda liebte, was offenbar auf Gegenseitigkeit beruhte, denn er hatte all seine Reliquien aus den Jahren hervorgeholt, in denen er als Walfänger zur See gefahren war, und ihr von seinen Erlebnissen in jener Zeit erzählt, wobei ihn das Mikrofon, das Linda dazwischen hielt, wahrscheinlich noch zusätzlich motivierte. Sie machten Pfannkuchen aus Pinguineiern!, erzählte sie und lachte, sorgte sich gleichzeitig jedoch ein wenig wegen der Aufnahme. Anfinn sprach einen so breiten Jølster-Dialekt, dass er für Schweden vermutlich unverständlich sein würde.
Espen reiste am Vormittag ab, aber Eirik blieb und war eine Weile in der Stadt, während ich die letzten Bücher in die Regale stellte und die letzten Kisten wegräumte, damit alles fertig sein würde, wenn Linda am nächsten Morgen zurückkam. Am Abend gingen wir erneut aus, und als wir zurückkamen,
blieben wir auf und tranken die Nacht hindurch zollfreien Schnaps. Linda und ich schickten uns laufend SMS, denn ihr war schlecht geworden, sie war müde gewesen, das konnte im Grunde doch nur eines bedeuten, oder nicht? Je später es wurde, desto warmherziger und liebevoller wurden unsere SMS, aber schließlich schrieb sie gute Nacht, geliebter Prinz, vielleicht wird morgen ein großer Tag sein!
Als ich gegen sieben ins Bett ging, brannte die klare Flamme des Alkohols mit solcher Kraft in mir, dass ich von meiner Umgebung nichts mehr wahrnahm, alles schien mein Inneres zu sein, wie es immer der Fall war, wenn ich mich sinnlos betrank. Trotzdem war ich geistesgegenwärtig genug, den Wecker auf neun zu stellen. Immerhin wollte ich Linda vom Zug abholen.
Um neun war ich nach wie vor betrunken, und es gelang mir nur unter Aufbietung all meiner Willenskraft, auf die Beine zu kommen. Ich schleppte mich ins Bad, duschte, zog saubere Kleider an und rief Eirik zu, dass ich ginge. Er lag angezogen auf der Couch, raffte sich auf und sagte, er werde frühstücken gehen, woraufhin ich meinte, dass wir uns um zwölf in dem Restaurant treffen könnten, in dem wir am Vortag gewesen waren. Er nickte, ich wankte die Treppen hinunter und gelangte auf die Straße hinaus, wo grell die Sonne schien und der Asphalt nach Frühling roch.
Unterwegs machte ich Halt, kaufte eine Cola, leerte sie in einem Zug und kaufte noch eine. Ich betrachtete mein Gesicht in einem Schaufenster. Es sah nicht gut aus. Schmale, rote Augen. Abgezehrte Züge.
Ich hätte alles dafür gegeben, die Begegnung drei Stunden nach hinten zu verschieben. Aber das ging leider nicht, ihr Zug würde in dreizehn Minuten ankommen, und es hieß, die Beine in die Hand zu nehmen.
Als sie auf den Bahnsteig trat, war alles an ihr fröhlich und
leicht, mit einem Lächeln auf den Lippen schaute sie sich nach mir um, und ich winkte, sie winkte auch und kam, den Koffer mit der Hand hinter sich her rollend, auf mich zu.
Sie sah mich an.
»Hallo«, sagte ich.
»Was ist los, bist du betrunken?«, sagte sie.
Ich trat einen Schritt vor und legte die Arme um sie.
»Hallo«, sagte ich erneut. »Gestern Abend ist es ein bisschen spät geworden. Aber kein Grund zur Sorge. Ich habe nur mit Eirik zu Hause gesessen.«
»Du stinkst nach Schnaps«, sagte sie und machte sich frei. »Wie kannst du mir das nur antun? Ausgerechnet
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