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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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hervor und nistete sich in den Gedanken über sie ein, zumindest war es mir so gegangen. Gleichzeitig hatte sie aber auch etwas Kindliches, vor allem wenn sie lachte oder sich ereiferte und ihre Selbstbeherrschung überwunden wurde. Nicht kindlich wie in unreif, sondern kindlich wie im Spiel und in Ausgelassenheit. Bei meiner Mutter nahm ich in den äußerst seltenen Fällen, in denen sie die Kontrolle verlor und etwas Ungehemmtes oder Übereiltes tat, etwas Vergleichbares wahr, denn auch in ihr war das nicht Durchdachte untrennbar mit dem Verletzlichen verbunden. Als wir einmal bei Geir und Christina zum Essen eingeladen waren und Christina wie üblich all ihre Kraft und Konzentration dem Kochen widmete, hatte ich alleine im Wohnzimmer gestanden, im Halbdunkel vor den Bücherregalen, als sie hereinkam, um etwas zu holen. Sie wusste nicht, dass ich dort stand. Mit den Stimmen und dem Rauschen der Dunstabzugshaube im Rücken lächelte sie in sich hinein. Ihre Augen leuchteten. Oh, ich freute mich so sehr, als ich es sah, wurde aber auch traurig, denn dass es ihr so viel bedeutete, uns da zu haben, sollte niemand sehen.
    Als ich bei ihnen wohnte, hatte Christina eines Morgens in der Küche gestanden und gespült, während ich am Küchentisch saß und Kaffee trank, als sie plötzlich auf die Stapel von Tellern und Schüsseln im Schrank zeigte.
    »Als wir zusammengezogen sind, habe ich von allem achtzehn Stück gekauft«, sagte sie. »Mir schwebte vor, dass wir hier große Feste feiern würden. Jede Menge Freunde und tolle Essen. Aber wir haben sie nie benutzt. Kein einziges Mal!«
    Geir lachte laut im Schlafzimmer. Christina lächelte.
    Das waren die beiden. So waren sie.
    »Aber du hast Recht«, sagte ich jetzt. »Die Jahre zwischen zwanzig und dreißig waren die Hölle. Nur die Pubertät war schlimmer. Aber dreißig und älter ist okay.«
    »Und was hat sich verändert?«, sagte Helena.
    »Mit zwanzig war das, was ich hatte, also das, was mich ausmachte, so wenig. Das kapierte ich natürlich nicht, denn es war ja alles, was es für mich gab. Aber jetzt, mit fünfunddreißig, ist es mehr. Alles, was es in mir gab, als ich zwanzig war, ist immer noch da. Aber heute ist es von unendlich viel mehr umgeben. So ungefähr denke ich mir das.«
    »Das ist ja eine ungeheuer optimistische Vorstellung«, sagte Helena. »Dass das Leben immer besser ist, je älter man wird.«
    »Aber ist das auch wirklich so?«, erwiderte Geir. »Ist es nicht einfacher zu leben, je weniger man hat?«
    »Nicht für mich«, sagte ich. »Heute bedeuten die Dinge nicht so verdammt viel. Das taten sie früher. Kleinigkeiten konnten alles bedeuten! Entscheidend sein!«
    »Das ist wahr«, sagte Geir. »Aber optimistisch würde ich es immer noch nicht nennen. Eher fatalistisch.«
    »Was geschieht, das geschieht«, sagte ich. »Und jetzt sitzen wir hier. Darauf trinken wir, Prost!«
    »Prost!«
    »Es sind noch sieben Minuten bis zwölf«, sagte Linda. »Sollen wir den Fernseher einschalten und beim Countdown Jan Malmsjö hören?«
    »Wovon redest du?«, sagte ich, ging zu ihr und reichte ihr die Hand. Sie nahm sie, und ich zog sie hoch.
    »Er liest ein Neujahrsgedicht. Die Glocken läuten. Es ist eine schwedische Tradition.«
    »Dann schalt ein«, sagte ich.
    Während sie das tat, ging ich zu den Fenstern und öffnete sie. Der Lärm der Feuerwerkskörper wurde von Minute zu Minute intensiver, inzwischen knallte und knatterte es unaufhörlich, es war eine Wand aus Krach über den Häuserdächern. In den Straßen drängelten sich Menschen. Sektflaschen und Wunderkerzen in den Händen, dicke Damen- und Herrenmäntel über festlich gekleideten Körpern. Keine Kinder, nur betrunkene und fröhliche Erwachsene.
    Linda holte die letzte Flasche Sekt, öffnete sie und füllte schäumend die Gläser. Mit ihnen in den Händen standen wir an den Fenstern. Ich sah die anderen an. Sie waren fröhlich, aufgekratzt, redeten, zeigten, prosteten sich zu.
    Draußen ertönten Sirenen.
    »Entweder wir haben Krieg, oder 2004 hat begonnen«, sagte Geir.
    Ich packte Linda, hielt sie an mich gedrückt. Wir sahen uns in die Augen.
    »Frohes neues Jahr«, sagte ich und küsste sie.
    »Frohes neues Jahr, geliebter Prinz«, sagte sie. »Das ist unser Jahr.«
    »Ja, das ist es«, sagte ich.
    Als alle Umarmungen und Neujahrswünsche vorbei waren und die Menschen sich allmählich von den Straßen zurückzogen, fiel Anders und Helena ihr chinesischer Ballon wieder ein. Wir zogen uns an und

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