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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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Einkaufstüten absetzte, um auf den Knopf des öffentlichen Aufzugs zu drücken, der zur Malmskillnadsgatan hinaufführte, warf ich zufällig einen Blick auf mein Handy und entdeckte, dass Linda mich acht Mal angerufen hatte. Da ich fast zu Hause war, rief ich nicht zurück, sondern stand da und wartete auf den Aufzug, der sich unendlich langsam zu mir herabsenkte. Ich
drehte mich um und begegnete dem Blick eines Penners, der an der Wand in einem Schlafsack döste. Er war hager und hatte eine schuppige Gesichtshaut. Es lag keine Neugier in seinem Blick, abgestumpft war er jedoch auch nicht. Er registrierte mich bloß. Deswegen und wegen der Unsicherheit, die Lindas Anrufe ausgelöst hatten, stand ich voller Unbehagen regungslos im Aufzug, während ich sachte in dem Schacht angehoben wurde. Sobald er hielt, riss ich die Tür auf, lief auf dem Bürgersteig die David Bagares gata hinunter, durch die Haustür und die Treppen hinauf.
    »Hallo?«, rief ich. »Ist etwas passiert?«
    Keine Antwort.
    Sie war doch hoffentlich nicht ohne mich ins Krankenhaus gefahren?
    »Hallo?«, rief ich erneut. »Linda?«
    Ich zog die hohen Winterschuhe aus, ging in die Küche und öffnete die Tür zum Schlafzimmer einen Spaltbreit. Keiner da. Mir wurde bewusst, dass die Einkaufstüten noch in meinen Händen hingen, so dass ich sie auf dem Küchentisch absetzte, ehe ich das Schlafzimmer durchquerte und die Tür zum Wohnzimmer öffnete.
    Sie stand mitten im Zimmer und sah mich an.
    »Was ist los?«, sagte ich. »Ist etwas passiert?«
    Sie antwortete nicht. Ich ging zu ihr.
    »Was ist passiert, Linda?«
    Ihr Blick war finster.
    »Ich habe den ganzen Tag noch nichts gespürt«, sagte sie. »Ich habe das Gefühl, dass da etwas nicht stimmt. Ich spüre nichts.«
    Ich legte den Arm auf ihre Schulter. Sie entwand sich meinem Griff.
    »Es ist alles in Ordnung«, sagte ich. »Da bin ich mir sicher.«
    »VERDAMMTE SCHEISSE! NICHTS IST IN ORDNUNG!«, schrie sie. »Kapierst du denn gar nichts? Kapierst du nicht, was passiert ist?«
    Ich versuchte erneut, sie zu umarmen, aber sie drehte sich weg.
    Sie brach in Tränen aus.
    »Linda, Linda«, sagte ich.
    »Kapierst du nicht, was passiert ist?«, sagte sie wieder.
    »Es ist alles in Ordnung«, sagte ich. »Da bin ich mir sicher.«
    Ich erwartete einen neuen Ausbruch. Stattdessen nahm sie die Hände herunter und sah mich mit Augen voller Tränen an.
    »Wie kannst du dir da so sicher sein?«
    Ich antwortete nicht. Ihr Blick, der meinem nicht auswich, fühlte sich an wie eine Anklage.
    »Und was sollen wir deiner Meinung nach tun?«, sagte ich.
    »Wir müssen ins Krankenhaus fahren.«
    »Ins Krankenhaus?«, sagte ich. »Es ist doch alles, wie es sein soll. Sie bewegen sich weniger, je näher die Geburt rückt. Jetzt komm schon. Es ist alles in Ordnung. Es ist nur …«
    Erst da, als ich ihrem ungläubigen Blick begegnete, begriff ich, dass es tatsächlich auch etwas Ernstes sein konnte.
    »Zieh dich an«, sagte ich. »Ich rufe uns ein Taxi.«
    »Ruf erst an und sag ihnen, dass wir kommen«, erwiderte sie.
    Ich schüttelte den Kopf und ging zur Fensternische, wo das Telefon stand.
    »Wir fahren einfach hin«, erwiderte ich, griff nach dem Hörer und wählte die Nummer der Taxizentrale. »Wenn wir erst einmal da sind, werden sie uns schon helfen.«
    Während ich darauf wartete durchzukommen, folgten ihr meine Augen. Wie sie langsam und fast ohne in den Bewegungen anwesend zu sein, ihre Jacke anzog, sich den Schal
um den Hals wickelte, erst den einen, dann den anderen Fuß auf die Truhe setzte, um die Schuhe zuzubinden. Jedes Detail im Flur, wo sie stand, setzte sich deutlich von dem dunklen Wohnzimmer ab. Ihr liefen weiter die Tränen hinab.
    Ein Klingelton nach dem anderen ertönte, ohne dass etwas geschah.
    Jetzt stand sie da und sah mich an.
    »Ich bin noch nicht durchgekommen«, sagte ich.
    Dann brach der Ton ab.
    »Taxizentrale Stockholm«, meldete sich eine Frauenstimme.
    »Ja, hallo, ich bräuchte ein Taxi, die Adresse ist Regeringsgatan 81.«
    »Ja … und wohin?«
    »Zum Krankenhaus Danderyd.«
    »Geht in Ordnung.«
    »Wie lange dauert es?«
    »Ungefähr fünfzehn Minuten.«
    »Das geht nicht«, sagte ich. »Es geht um eine Niederkunft. Wir brauchen das Taxi sofort.«
    »Worum geht es?«
    »Eine Niederkunft.«
    Ich begriff, dass sie das Wort Niederkunft nicht verstand. Es vergingen ein paar Sekunden, in denen ich nach dem richtigen Wort suchte.
    »Um eine Entbindung«, brachte ich endlich heraus.

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