Lieben: Roman (German Edition)
ich einen klapprigen Kinderwagen mit drei Kindern durch die Straßen schob, während häufig zwei oder drei Einkaufstüten an meiner Hand baumelten, meine Falten tief wie Schnittfurchen in der Stirn und auf den Wangen saßen, und meine Augen mit einer leeren Wildheit brannten, zu der ich längst jeglichen Kontakt verloren hatte. Ich machte mir keine Gedanken mehr über das eventuell Verweiblichende an meinem Tun, denn jetzt ging es nur noch darum, die Kinder dorthin zu transportieren, wo wir gerade hin wollten, ohne dass sie sich trotzig auf die Erde setzten und sich weigerten weiterzugehen, oder was sie sich sonst so alles einfallen ließen, um mir und meinem Wunsch nach einem leichten Morgen oder Nachmittag Widerstand zu leisten. Einmal stoppte eine Gruppe japanischer Touristen auf der anderen Straßenseite und zeigte auf mich, als wäre ich der Anführer einer Zirkusparade. Sie zeigten auf mich. Da geht der skandinavische Mann! Seht her und erzählt euren Enkelkindern davon, was ihr gesehen habt!
Ich war so stolz auf unsere Kinder. Vanja war unbändig und mutig, man hätte nicht meinen sollen, dass dieser schlanke Körper einen derartigen Appetit auf Bewegung hatte, sich so gierig die Welt mit ihren Bäumen, Klettergerüsten, Schwimmbecken und offenen Flächen zu eigen machen konnte, und das Verschlossene an ihr, das sie in den ersten Monaten in ihrem neuen Kindergarten derart gehemmt hatte, war so vollständig verschwunden, dass es im nächsten »Entwicklungsgespräch« um das genaue Gegenteil ging. Diesmal bestand das Problem nicht darin, dass Vanja sich versteckte, keinen Kontakt zu den Erwachsenen suchte und nie die Anführerin beim Spielen war, sondern dass sie sich manchmal vielleicht zu sehr in den Mittelpunkt
stellte, wie sie uns behutsam erläuterten, und zu sehr darauf bedacht war, die Nummer eins zu sein. »Offen gesagt«, meinte der Leiter des Kindergartens, »kommt es vor, dass sie einige der anderen Kinder mobbt. Das Gute daran ist«, fuhr er fort, »dass sie, um dies überhaupt tun zu können, intelligent genug sein muss, um die Situation zu erfassen und sie auszunutzen. Aber wir arbeiten daran, ihr verständlich zu machen, dass sie das nicht tun darf. Habt ihr vielleicht eine Ahnung, woher sie diese Melodie hat, ihr wisst schon, na-na-na-nanaaa-na? Hat sie das aus einem Film oder so? Dann könnten wir den Film nämlich zeigen und den Kindern erklären, worum es geht.« Nach unserem letzten Treffen, bei dem sie uns zu einem Logopäden geraten und ihre Schüchternheit als einen Fehler oder Makel behandelt hatten, war es mir wirklich herzlich egal, was sie über Vanja dachten. Sie war erst vier, das würde sie in ein paar Monaten wieder ablegen… Heidi war nicht so unbändig und hatte eine ganz andere Körperbeherrschung, sie schien sich in völlig anderer Weise in ihrem Körper heimisch zu fühlen als Vanja, die sich gern in ihren Fantasien verlor und für die das Fiktionale bloß eine Variante der Wirklichkeit war. Wo Vanja einen Wutanfall bekam und vor Verzweiflung außer sich geriet, wenn sie etwas nicht von der ersten Sekunde an meisterte, und dankbar Hilfe annahm, wollte Heidi alles alleine machen, reagierte beleidigt, wenn wir sie fragten, ob wir ihr helfen sollten, und machte immer weiter, bis sie es am Ende schaffte. Der Triumph in ihrem Gesicht in diesem Augenblick! Bis in die Spitze des großen Baums auf dem Spielplatz kletterte sie noch vor Vanja. Beim ersten Mal schlang sie die Arme um den obersten Ast. Beim zweiten Mal, von Kleinkindhybris erfasst, kletterte sie auf ihn hinauf. Ich saß auf einer Bank, las Zeitung und hörte ihren Aufschrei: Sie hockte auf dem äußeren Ende des Asts, ohne sich an irgendetwas festhalten zu können, sechs Meter über dem Erdboden. Eine unbedachte
Bewegung, und sie wäre gefallen. Ich kletterte ihr nach, bekam sie zu fassen und konnte mir ein Lachen nicht verkneifen, was wolltest du denn da ? Beim Gehen hüpfte sie zwischendurch immer mal wieder, und das, dachte ich, waren Hüpfer des Glücks. Man hatte den Eindruck, dass sie als Einzige in unserer Familie wirklich glücklich war und ein Talent dafür hatte. Sie ertrug alles, nur nicht, wenn man mit ihr schimpfte. Dann ging bebend ihre Lippe hoch, dann kullerten die Tränen aus den Augen, und manchmal dauerte es eine Stunde, bis sie sich trösten ließ. Sie liebte es, mit Vanja zu spielen, dann war sie mit allem einverstanden, und sie liebte es zu reiten. Als sie in dem Sommer auf dem Esel im
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