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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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Vergnügungspark saß, glühte ihr Gesicht vor Stolz. Doch selbst dieser Anblick brachte Vanja nicht dazu, ihre Meinung zu ändern, sie wollte nicht reiten, wollte nie wieder reiten, schob ihre Brille auf der Nase hoch, warf sich plötzlich vor John auf die Erde und stieß einen Schrei aus, der alle in der Nähe zu uns herübersehen ließ. John gefiel es jedoch, er schrie auch, und dann lachten die beiden.
     
    Die Sonne stand bereits tief über den Kiefern im Westen. Der Himmel hatte jene tiefblaue Farbe, die mir aus meiner Kindheit in Erinnerung geblieben war und die ich so liebte. Dann löste sich etwas in mir, stieg etwas auf. Aber ich konnte es zu nichts gebrauchen. Die Vergangenheit war nichts.
    Linda hob Heidi, die dem Tier zum Abschied genauso zuwinkte wie der Kartenverkäuferin, von dem dämlichen Esel.
    »So«, sagte ich. »Jetzt geht es aber schnurstracks nach Hause.«
    Das Auto stand inzwischen fast alleine auf dem weiträumigen Kiesparkplatz. Ich setzte mich mit Heidi auf dem Schoß vor dem Wagen auf den Bordstein, wechselte ihre Windel und schnallte den blinzelnden John auf dem Vordersitz fest, während Linda hinten mit den Mädchen das Gleiche machte.
    Wir hatten einen großen, roten VW gemietet. Es war erst das vierte Mal, dass ich fuhr, seit ich den Führerschein gemacht hatte, so dass mir alles, was zum Autofahren dazugehörte, Freude bereitete. Starten, schalten, Gas geben, zurücksetzen, lenken. Alles machte Spaß. Ich hätte nie gedacht, dass ich eines Tages Auto fahren würde, es gehörte nicht zu meinem Selbstbild, umso größer war die Freude, als ich nun mit hundertfünfzig Kilometern in der Stunde auf der Autobahn nach Hause fuhr, in diesem gleichmäßigen, fast dumpfen Rhythmus, der sich einstellte, blinken, überholen, blinken, in einer Landschaft, die zunächst von Wald geprägt war, danach, hinter einem langgezogenen Anstieg einen Höhenzug hinauf, von weitgestreckten Weizenfeldern, flachen Bauernhöfen, wunderschönen Wäldchen und kleinen Wäldern mit Laubbäumen, und im Westen lag als blauer Rand die ganze Zeit das Meer.
    »Schaut mal!«, sagte ich, als wir die Kuppe erreichten und die schonische Landschaft unter uns lag. »Ist das nicht unglaublich schön!«
    Goldene Weizenfelder, grüne Buchenwälder, blaues Meer. Alles im Licht der untergehenden Sonne noch intensiviert und nahezu vibrierend.
    Keiner antwortete.
    Dass John schlief, wusste ich. Aber waren die anderen auf der Rückbank etwa auch eingenickt?
    Ich wandte mich um und warf einen Blick über die Schulter.
    Allerdings. Drei Mädchen mit offenem Mund und geschlossenen Augen lagen dort.
    In mir explodierte das Glück.
    Eine, zwei, vielleicht auch drei Sekunden währte es, dann nahte der unweigerliche Schatten, diese finstere Schleppe des Glücks.
    Ich schlug mit der Hand auf das Lenkrad und sang zur
Musik. Es war Coldplays aktuelle Platte, die ich eigentlich nicht ausstehen konnte, aber ich hatte entdeckt, dass sie die perfekte Begleitmusik zum Autofahren war. Ich hatte einmal das exakt gleiche Gefühl gehabt wie jetzt. Damals war ich sechzehn, verliebt, an einem frühen Sommermorgen unterwegs durch Dänemark gewesen. Wir wollten zu einem Trainingslager in Nykøbing, und abgesehen vom Fahrer und mir auf der Beifahrerseite schliefen alle anderen im Auto. Er legte Brothers in Arms von den Dire Straits auf, die Platte war damals im Frühjahr erschienen und bildete zusammen mit Stings The Dream of the Blue Turtles und Talk Talks It’s My Life den Soundtrack zu allem Fantastischen, was mir in den letzten Monaten passiert war. Die flache Landschaft, die aufgehende Sonne, die Reglosigkeit draußen, die schlafenden Menschen, der Glücksschub, der so riesig war, dass ich mich noch fünfundzwanzig Jahre später daran erinnerte. Doch dieses Glück hatte keinen Schatten gehabt, es war rein, unvermischt, unverfälscht gewesen. Damals lag das Leben vor mir. Alles konnte geschehen. Alles war möglich. So war es heute nicht mehr. Vieles war geschehen, und was geschehen war, schuf die Prämissen für das, was noch geschehen würde.
    Es gab nicht nur weniger Möglichkeiten, auch die Gefühle, mit denen ich sie erlebte, waren schwächer, das Leben weniger intensiv geworden. Außerdem wusste ich, dass ich den halben Weg, vielleicht auch schon mehr als den halben Weg zurückgelegt hatte. Wenn John so alt sein würde wie ich jetzt, würde ich achtzig sein. Also mit einem Bein im Grab stehen, wenn ich dort nicht schon mit allen Knochen im Leib

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