Lieben: Roman (German Edition)
dass die Sehnsucht nach der Landschaft, in der wir aufwuchsen, sozusagen biologisch bedingt in uns verankert war. Dass der Instinkt, der eine Katze soweit bringen konnte, auf der Suche nach dem Ort, von dem sie stammte, mehrere hundert Kilometer zurückzulegen, auch in uns aktiv war, dem Menschentier, auf einer Ebene mit den anderen zutiefst archaischen Strömungen in uns.
Manchmal sah ich im Internet Bilder von Sandøya, und der Sog, den diese Landschaft auf mich ausübte, war so stark, dass dadurch völlig übertüncht wurde, wie potentiell einsam und verlassen es wäre, dort zu wohnen. Was für Linda natürlich nicht galt, so dass sie zwar skeptischer, aber nicht grundsätzlich dagegen war. Am Meer im Wald zu wohnen, wäre bei weitem besser als in der siebten Etage mitten in der Stadt. Darüber sprachen und spekulierten wir oft genug, um hinfahren und uns einen Eindruck verschaffen zu wollen. Dann bekam ich jedoch den Führerschein nicht und musste alleine nach Søgne fahren, wodurch das Engagement jeden Sinn verlor. Worüber sollte ich dort sprechen?
An jenem Abend, an dem ich im Internet den Flug buchte, rief mich Geir an. Wir hatten tagsüber bereits telefoniert, aber er war in den letzten Wochen auf seine kontrollierte Art außer
sich gewesen, so dass es mir nicht weiter seltsam vorkam, dass er anrief. Ich setzte mich in den Sessel und legte die Füße auf den Schreibtisch. Er erzählte mir ein wenig über die Biografie über Montgomery Clift, an der er schrieb, dass dieser immer und überall das Maximum des Lebens gesucht habe. Mein einziger Anknüpfungspunkt zu Montgomery Clift waren The Clash , ihre Zeile »Montgomery Clift, honey!« aus London Calling , und es stellte sich heraus, dass auch Geir dort auf ihn gestoßen war, wenn auch auf andere Art: Im Irak hatte er in einem Wasserwerk mit Robin Banks zusammengewohnt, einem englischen Junkie, der einer der besten Freunde der Band gewesen war, sie auf Tourneen begleitet hatte, dem sogar einer ihrer Songs gewidmet war, und er hatte erzählt, dass Montgomery Clift einen großen Platz in ihrem Leben eingenommen hatte, woraufhin Geir Lust bekam, sich mit ihm zu beschäftigen. Ein weiterer Grund war, dass The Misfits zu seinen Lieblingsfilmen gehörte. Ich sprach ein wenig über die Buddenbrooks von Thomas Mann, die ich gerade noch einmal las, wie perfekt die Formulierungen darin waren, das hohe Niveau, auf dem alles lag, wodurch ich jede Seite genoss, wirklich genoss, was sonst nie der Fall war. Gleichzeitig gehörte diese Perfektion, genau wie die Handlung und die Form, einer anderen Epoche an als der, in der Thomas Mann schrieb, so dass es sich im Grunde vor allem um eine Nachahmung, eine Rekonstruktion oder mit anderen Worten, ein Pastiche handelte. Was passierte, wenn das Pastiche das Original übertraf? Konnte es das überhaupt? Es war eine klassische Fragestellung, an der sich bereits Vergil abgearbeitet haben musste. Wie eng ist ein Stil oder eine Form mit der bestimmten Zeit und Kultur verbunden, in der er erstmalig aufkommt? Ist er zerstört, wenn er als solcher erscheint, als Stil oder Form? Bei Thomas Mann war er nicht zerstört, das war nicht das treffende Wort, vielleicht eher ambivalent, unendlich ambivalent,
woraus die Ironie, die jedes Fundament zum Wanken brachte, entsprang. Danach kamen wir auf Stefan Zweigs Buch Die Welt von gestern zu sprechen, das fantastische Panorama, das es von der Zeit um die Jahrhundertwende entwirft, als Alter und Autorität und nicht Jugend und Schönheit erstrebenswert waren, und alle jungen Leute mit ihren Bäuchen, Uhrketten, Zigarren und Glatzen wie Menschen mittleren Alters auszusehen versuchten. Alles zerrissen vom Ersten Weltkrieg, der zusammen mit dem zweiten einen Abgrund zwischen uns und ihnen bildete. Geir begann erneut, von Montgomery Clift zu sprechen, seinem brennenden Leben, dem alles umfassenden Vitalismus. Er erklärte, allen Biografien, die er im letzten Jahr gelesen hatte, sei eines gemeinsam gewesen, in allen sei es um Vitalisten gegangen. Nicht theoretisch, sondern in der Praxis, sie suchten immer so viel Leben wie möglich. Jack London, André Malraux, Nordahl Grieg, Ernest Hemingway. Hunter S. Thompson. Majakowski.
»Ich kann gut verstehen, dass Sartre Amphetamin nahm«, meinte er. »Das Tempo erhöhen, mehr schaffen, brennen. Ist doch so. Aber der konsequenteste von allen war Mishima. Immer wieder kehre ich zu ihm zurück. Als er sich das Leben nahm, war er vierzig. Er war konsequent,
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