Lieben: Roman (German Edition)
der Held musste schön sein. Konnte nicht alt werden. Und Jünger, der den umgekehrten Weg ging. An seinem hundertsten Geburtstag trank er Cognac und rauchte Zigarren, scharf wie ein Messer. Bei all dem geht es um Kraft. Das Einzige, wofür ich mich interessiere. Kraft, Mut, Willen. Intelligenz? Nein. Ich glaube, die bekommst du, wenn du willst. Das ist nicht weiter wichtig, nicht interessant. In den Siebzigern und Achtzigern aufzuwachsen ist ein Witz. Ein Joke. Wir machen nichts. Oder was wir machen, ist bloß Unsinn. Ich schreibe, um meine verlorene Ernsthaftigkeit zurückzuerobern. Das tue ich. Aber es nützt ja nichts. Du weißt ja, wo ich sitze. Du weißt ja, was ich mache.
Mein Leben ist so klein. Und meine Feinde sind auch so klein. Es ist es nicht wert, seine Kraft daran zu vergeuden. Aber es gibt kein anderes. Und so sitze ich hier und starre in meinem Schlafzimmer Löcher in die Luft.«
»Vitalismus«, sagte ich. »Weißt du, es gibt einen anderen Vitalismus, der an die Scholle und die Familie geknüpft ist. Die zwanziger Jahre in Norwegen.«
»Oh, das interessiert mich nicht. In dem Vitalismus, von dem ich spreche, gibt es nicht den geringsten Hauch von Nationalsozialismus. Nicht, dass es mir etwas ausgemacht hätte, wenn es ihn gegeben hätte, aber darum geht es mir nicht. Ich spreche von der antiliberalen Hochkultur.«
»Es gab auch im norwegischen Vitalismus keine Spur von Nationalsozialismus. Die Mittelschicht führte ihn in den Vitalismus ein, machte aus ihm etwas Abstraktes, eine Idee, also etwas, das es nicht gab. Es ging um die Sehnsucht nach der Scholle, die Sehnsucht nach der Familie. Was Hamsun so kompliziert macht, ist die Tatsache, dass er als Mensch so entwurzelt und so wenig verankert und in dieser Hinsicht modern im amerikanischen Sinne war. Aber er verachtete Amerika, den Massenmenschen, die Wurzellosigkeit. Er verachtete sich selbst. Und die Ironie, die daraus erwächst, ist letztlich wesentlich relevanter als Thomas Manns, denn es geht bei ihr nicht um Stil, sondern um die grundlegende Existenz.«
»Ich bin kein Schriftsteller, ich bin Landwirt«, sagte Geir. »Ha ha ha! Aber nein, danke, die Scholle kannst du behalten. Ich interessiere mich nur für das Soziale. Sonst nichts. Du kannst Lukrez lesen und Halleluja rufen, du kannst über die Wälder im siebzehnten Jahrhundert sprechen. Nichts könnte mich weniger interessieren. Das Einzige, was für mich zählt, ist der Mensch.«
»Hast du dieses Bild von Kiefer gesehen? Ein Wald, du siehst nur Bäume und Schnee, hier und da rote Flecken, und
dann sind in Weiß ein paar Namen deutscher Dichter darauf geschrieben. Hölderlin, Rilke, Fichte, Kleist. Das ist das beste Kunstwerk nach dem Krieg, vielleicht im gesamten letzten Jahrhundert. Was bildet es ab? Einen Wald. Worum geht es darin? Nun, natürlich um Auschwitz. Wo ist die Verbindung? Es geht nicht um Gedanken, es reicht bis in die Tiefe der Kultur hinein, und das lässt sich nicht in Gedanken fassen.«
»Hast du mittlerweile Shoah gesehen?«
»Nein.«
»Wald, Wald, Wald. Und Gesichter. Wald und Gas und Gesichter.«
»Das Bild heißt Varus , soweit ich mich erinnere war das ein römischer Heerführer, nicht? Der in Germanien eine große Schlacht verlor? Die Linie geht also von den Siebzigern bis zu Tacitus zurück. Schama zieht sie in Der Traum von der Wildnis , dem Buch, das ich gelesen habe, du weißt schon. Wir hätten auch Odin hinzunehmen können, der sich an einem Baum erhängt. Vielleicht tut er das auch, ich erinnere mich nicht mehr. Aber es ist Wald.«
»Ich verstehe, worauf du hinaus willst.«
»Wenn ich Lukrez lese, geht es um die Pracht der Welt. Und das, die Pracht der Welt, ist natürlich ein barocker Gedanke. Er starb sicher mit dem Barock aus. Es geht um die Dinge. Das Körperliche an den Dingen. Die Tiere. Die Bäume. Die Fische. Wenn du traurig bist, dass die Handlung verschwunden ist, bin ich traurig, weil die Welt verschwunden ist. Das Körperliche an ihr. Wir haben doch nur noch Bilder von ihr. Damit setzen wir uns auseinander. Aber die Apokalypse, worin besteht die heute? Bäume, die in Südamerika verschwinden. Schmelzendes Eis, steigende Meeresspiegel. Wenn du schreibst, um die Ernsthaftigkeit zurückzuholen, schreibe ich, um die Welt zurückzuholen. Nun ja, nicht die Welt, in der ich hocke. Eben nicht die soziale. Die Wunderkammer des Barock. Das Kuriositätenkabinett.
Und die Welt, die in Kiefers Bäumen liegt. Das ist Kunst. Sonst nichts.«
»Ein
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