Lieben: Roman (German Edition)
meinte sie. »Möchtest du reinkommen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Das habe ich mir fast gedacht«, sagte sie. »Mit wem hast du eigentlich telefoniert?«
»Mit Geir«, sagte ich. »Seine Mutter ist heute gestorben.«
»Oh, wie traurig…«, sagte sie. »Wie kommt er damit zurecht?«
»Gut«, antwortete ich.
Sie legte sich wieder in die Wanne.
»Wir kommen jetzt wohl in das Alter«, sagte ich. »Mikaelas Vater ist erst vor ein paar Monaten gestorben. Deine Mutter hat einen Herzinfarkt erlitten. Geirs Mutter ist tot.«
»Sag das nicht«, entgegnete Linda. »Mama wird noch viele Jahre leben. Deine Mutter auch.«
»Vielleicht. Wenn sie die Jahre zwischen sechzig und siebzig überleben, können sie alt werden. So ist es im Allgemeinen. Aber unabhängig davon dauert es trotzdem nicht mehr lange, bis wir die ältesten sind.«
»Karl Ove!«, sagte sie. »Du bist nicht einmal vierzig! Und ich bin fünfunddreißig!«
»Ich habe mich mal mit Jeppe darüber unterhalten«, sagte ich. »Er hat beide Elternteile verloren. Ich meinte, am Schlimmsten würde es für mich sein, dass ich keinen Zeugen für mein Leben mehr haben würde. Er verstand nicht, wovon ich sprach. Und ich weiß im Grunde auch nicht, ob ich das wirklich gemeint habe. Oder besser gesagt, ich will keinen Zeugen für mein Leben haben. Aber für das unserer Kinder. Ich möchte, dass meine Mutter sieht, was aus ihnen wird, nicht nur jetzt, solange sie klein sind, sondern auch später, wenn sie aufwachsen. Dass sie die Kinder wirklich kennt. Verstehst du, was ich meine?«
»Natürlich. Aber ich weiß nicht, ob ich darüber sprechen will.«
»Weißt du noch, wie du mal ins Zimmer gekommen bist und gefragt hast, ob ich wüsste, wo Heidi ist? Ich bin mitgekommen,
um sie zu suchen. Berit war hier, sie hatte die Balkontür aufgemacht. Als ich das sah, die offene Tür, bekam ich fürchterliche Angst. Alles Blut wich aus meinem Kopf. Ich wäre fast ohnmächtig geworden. Die Angst oder Panik oder Furcht oder was auch immer war so unmittelbar. Ich dachte, Heidi wäre alleine auf den Balkon hinaus. In diesen Sekunden war ich mir sicher, dass wir sie verloren hatten. Es sind bestimmt die schlimmsten Sekunden meines Lebens gewesen. Nie zuvor habe ich ein so intensives Gefühl gehabt. Das Ungewöhnliche besteht wohl eigentlich darin, dass ich das vorher nicht empfunden habe. Dass etwas passieren kann, wir sie tatsächlich verlieren können. Irgendwie habe ich geglaubt, sie wären unsterblich. Aber okay, darüber wollten wir ja nicht sprechen.«
»Danke.«
Sie lächelte. Wenn ihr Haar so zurück lag und das Gesicht ungeschminkt war, sah sie unglaublich jung aus.
»Du siehst jedenfalls nicht wie fünfunddreißig aus«, sagte ich. »Du siehst aus, als wärst du fünfundzwanzig.«
»Tue ich das?«
Ich nickte.
»Als ich letztens im Alkoholladen war, wollten sie tatsächlich meinen Ausweis sehen. Das könnte ich jetzt natürlich schmeichelhaft finden, aber wenn ich durch die Straßen gehe, werde ich auch von allen möglichen christlichen Organisationen angesprochen. Sie picken immer mich heraus. Wenn ich mit anderen unterwegs bin, werden die immer in Ruhe gelassen. Dann sehen sie mich und kommen angerannt. Ich muss irgendetwas ausstrahlen. Die da ist so eine, die wir erlösen können. Die muss erlöst werden. Meinst du nicht?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Könnte es nicht auch daran liegen, dass du so unschuldig aussiehst?«
»Ha! Noch schlimmer!«
Sie klemmte zwei Finger um die Nase und tauchte mit dem ganzen Körper unter. Als sie wieder hochkam, schüttelte sie erst den Kopf und blickte mich dann lächelnd an.
»Was ist? Warum siehst du mich so an?«, sagte sie.
»Das da, zum Beispiel«, sagte ich. »Das hast du schon als Kind getan.«
»Was?«
»Untertauchen.«
Im Schlafzimmer, das Wand an Wand mit dem Bad lag, begann John zu weinen.
»Streichelst du ein bisschen seinen Rücken, ich bin in einer Minute da.«
Ich nickte und ging ins Schlafzimmer. Er lag auf dem Rücken und fuchtelte weinend mit den Armen. Ich drehte ihn herum wie eine Schildkröte und strich mit der flachen Hand über seinen Rücken. Dies gehörte zu den Dingen, die er am meisten mochte, und es beruhigte ihn immer, es sei denn, er hatte sich bereits in Rage geschrien.
Ich sang die fünf Wiegenlieder, die ich im Repertoire hatte. Linda kam herein und legte ihn zu sich ins Bett. Ich ging ins Wohnzimmer, zog Jacke, Schal, Mütze und die Schuhe an, die neben der Balkontür standen,
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