Lieben: Roman (German Edition)
und ging hinaus. Ich setzte mich auf den Stuhl in der Ecke, goss mir einen Schluck Kaffee ein, zündete eine Zigarette an. Der Wind kam von Osten. Der Himmel war sternenklar und weit. An mehreren Stellen blinkten Flugzeuge.
Als ich zwanzig war, hatte mich im Sommer eines Tages meine Mutter angerufen und mir mitgeteilt, dass sie eine große Geschwulst im Bauch hatte und am nächsten Tag ins Krankenhaus kommen würde, um operiert zu werden. Sie meinte, sie wisse nicht, ob es gut- oder bösartig sei und dass sich nicht vorhersagen lasse, wie die Sache ausgehen werde.
Sie sagte, es sei so groß, dass sie schon seit längerer Zeit nicht mehr auf dem Bauch liegen könne. Ihre Stimme war matt und schwach. Ich war bei Hilde, einer Freundin aus dem Gymnasium, in Søm nahe Kristiansand, wo ich ein paar Minuten zuvor in der Auffahrt neben dem Auto gestanden und auf sie gewartet hatte, da wir schwimmen gehen wollten. Dann hatte sie mir von der Veranda aus zugerufen, deine Mutter ist am Telefon, Karl Ove. Ich erfasste augenblicklich den Ernst der Lage, aber nichts davon erweckte irgendwelche Gefühle zum Leben, ich stand dem Ganzen vollkommen kalt gegenüber. Ich legte auf, ging zu Hilde hinaus, die sich ins Auto gesetzt hatte, öffnete die Tür zum Beifahrersitz und setzte mich hinein, erzählte, dass meine Mutter operiert werden sollte und ich am nächsten Tag nach Førde fahren musste. Ich empfand es als ein Ereignis, als etwas, woran ich teilnehmen würde, als eine Rolle, die ich spielen konnte, der Sohn, der nach Hause fliegt, um sich um seine Mutter zu kümmern. Ich sah die Beerdigung vor mir, die vielen Leute, die mir ihr Beileid bekundeten, wie leid ich ihnen tun würde, und dachte an das Erbe, das sie hinterlassen würde. Und als Nächstes dachte ich daran, dass ich endlich etwas Bedeutungsvolles hatte, über das ich schreiben konnte. Während dies geschah, lief eine andere Stimme dazu parallel und sagte, nein, das war ernst, nein, hör mal, deine Mutter stirbt, sie bedeutet dir viel, du willst, dass sie lebt, das willst du doch, Karl Ove! Dass ich dies Hilde erzählen konnte, empfand ich als Bonus, da ich ahnte, dass meine Bedeutung in ihren Augen dadurch größer wurde. Am nächsten Tag fuhr sie mich zum Flughafen, ich landete auf Bringelandsåsen, nahm den Flughafenbus ins Zentrum von Førde und von dort einen Bus zum Krankenhaus, wo man mir die Schlüssel zu Mutters Haus aushändigte. Sie war erst kürzlich umgezogen, alles stand noch voller Kartons, aber darum brauchte ich mich nicht zu kümmern, lass alles einfach stehen, das mache ich schon,
sobald ich zurückkomme, sagte sie. Falls du zurückkommst, dachte ich. Ich nahm den Bus das Tal hinauf, durch die leuchtend grüne Landschaft, war den ganzen Abend und die Nacht über alleine im Haus, fuhr am nächsten Tag zum Krankenhaus hinunter, wo sie nach der Operation, die gut verlaufen war, benebelt und schwach war. Als ich zum Haus zurückkam, das am Ende einer kleinen Ebene lag, mit sanft ansteigenden Wiesen zu einem Berg hin auf der einen Seite, dem Fluss, dem Wald und einem weiteren Berg auf der anderen Seite, begann ich, die Kartons zu sortieren, die mit Küchenutensilien kamen in die Küche und so weiter. Es wurde dunkel, auf der Straße fuhren immer weniger Autos, das Rauschen des Flusses schwoll an, der Schatten meines Körpers flackerte auf Wänden und über Kartons. Wer war ich? Ein einsamer Mensch. Ich lernte gerade, damit zurechtzukommen, will sagen, die Bedeutung der Einsamkeit zu minimieren, hatte aber noch ein gutes Stück vor mir, was bedeutete, jedes Mal, wenn ich in der Arbeit innehielt, diese Kälte im Kopf zu spüren, dieses eisige Übel, und mich eventuell anzuziehen, eventuell über das Gras zu gehen, durch das Gartentor, über die Straße und zum Fluss, der im Dunkel der Sommernacht grau und schwarz vorbeiströmte, dort zwischen den leuchtend weißen Birkenstämmen zu stehen und auf das Wasser zu schauen, was meine Gefühle irgendwie abfederte, irgendwie zu ihnen passte. Das hatte etwas, denn so machte ich es damals, ich verließ nachts das Haus und suchte Gewässer auf. Das Meer, Flüsse, Teiche, es spielte keine Rolle. Oh, ich war so von mir selbst erfüllt und so groß, aber gleichzeitig war ich ein Niemand, beschämend allein und ohne Freunde, voller Gedanken über die eine, die Frau, von der ich nicht gewusst hätte, was ich mit ihr anfangen sollte, wenn ich sie denn bekommen hätte, denn ich hatte noch nie mit einer geschlafen. Eine Möse
Weitere Kostenlose Bücher