Lieben: Roman (German Edition)
dass ich eines Abends in den Lill-Jans-Wald ging, um dort zu joggen. Als ich gerade einmal hundert Meter gelaufen war, schlug mein Herz so schnell und rang meine Lunge derart
nach Luft, dass ich stehen bleiben musste. Weitere hundert Meter und meine Beine zitterten. Danach ging ich in die hotelzimmerähnliche Wohnung zurück und aß Knäckebrot und Suppe. An einem dieser Tage hatte ich in dem Geschäft eine Frau gesehen, sie hatte auf einmal neben mir gestanden, ausgerechnet an der Fleischtheke, und etwas an ihr, das rein Körperliche ihrer Ausstrahlung, ließ in mir von einer Sekunde zur nächsten eine fast explosive Begierde aufwallen. Sie hielt den Einkaufskorb mit beiden Händen vor sich, ihre Haare waren rötlich, die blasse Gesichtshaut voller Sommersprossen. Ihr Duft stieg mir in die Nase, ein schwacher Geruch von Schweiß und Seife, und ich starrte mit pochendem Herzen und zusammengeschnürter Kehle etwa fünfzehn Sekunden vor mich hin, denn das war der Zeitraum, den sie benötigte, um an meiner Seite aufzutauchen, abgepackte Salami aus dem Regal zu nehmen und wieder zu gehen. Als ich bezahlen wollte, sah ich sie noch einmal, sie stand an der anderen Kasse, und das Begehren, das nicht verschwunden war, warf sich in meinem Inneren nochmals nach vorn. Sie räumte die Waren in die Tüte, drehte sich um und ging zur Tür hinaus. Ich sah sie nie wieder.
Von ihrer tiefgelegenen Position im Wagen aus war Vanja ein Hund ins Auge gefallen, auf den sie nun zeigte. Ich hörte niemals auf, darüber nachzugrübeln, was sie wohl sah, wenn sie die Welt um sich herum betrachtete. Was bedeutete ihr dieser endlose Strom von Menschen, Gesichtern, Autos, Geschäften und Schildern? Sie erkannte Unterschiede darin, dessen war ich mir immerhin sicher, denn sie zeigte nicht nur regelmäßig auf Motorräder, Katzen, Hunde und andere Babys, sondern hatte zudem eine klar erkennbare Rangordnung für die Menschen in ihrer Nähe aufgestellt: zuerst kam Linda, dann ich, dann die Großmutter und alle anderen dahinter, je nachdem, wie lange sie sich in den letzten Tagen um sie herum aufgehalten hatten.
»Ja, guck, ein Hund«, sagte ich und griff nach einer Milchtüte, die ich auf den Wagen legte, und nach frischen Nudeln aus der benachbarten Theke. Anschließend nahm ich zwei Packungen Serranoschinken, ein Glas Oliven und Mozzarella, einen Topf Basilikum und ein paar Tomaten. In meinem früheren Leben wäre ich nie und nimmer auf die Idee gekommen, diese Lebensmittel zu kaufen, weil ich keine Ahnung hatte, dass sie überhaupt existierten. Doch nun war ich hier, mitten im Stockholm der kulturschaffenden Mittelschicht, und obwohl mir die Anbiederung an alles Italienische, Spanische, Französische und die Distanzierung von allem Schwedischen albern erschien, und im Laufe der Zeit, als ein größeres Bild entstand, sogar abstoßend wirkte, gab es keinen Grund, Energie darauf zu verschwenden. Wenn ich Koteletts und Kohl, Labskaus, Gemüsesuppe, Kartoffelknödel, Frikadellen, Lungenhaschee, Fischfrikadellen, Hammelfleisch in Kohl, Würstchen, Walsteaks, Sagosaftsuppe, Grießbrei, Milchreis und Sauerrahm vermisste, dann vermisste ich ebenso sehr die siebziger Jahre wie die eigentlichen Geschmackserlebnisse. Und da mir Essen nicht wichtig war, konnte ich ebenso gut kochen, was Linda schmeckte.
Ich blieb ein paar Sekunden vor dem Zeitungsständer stehen und überlegte, ob ich die beiden Abendzeitungen kaufen sollte, wie sie in Schweden genannt wurden, also die beiden größten Boulevardzeitungen. Sie zu lesen bedeutete, sich einen Sack Müll in den Kopf zu kippen. Manchmal tat ich das, wenn ich das Gefühl hatte, dass ein bisschen mehr oder weniger Müll auch keine Rolle mehr spielte. An diesem Tag jedoch nicht.
Ich bezahlte und kehrte auf die Straße zurück, wo der Asphalt schwach das Licht des milden Winterhimmels reflektierte, und die Autos, die an allen Seiten der Kreuzung in Schlangen standen, am ehesten einer mächtigen Stauung geflößter Holzstämme glichen. Um mich dem Verkehr zu entziehen,
nahm ich die Tegnérgatan. Im Schaufenster des dortigen Antiquariats, eines von mehreren, in denen ich regelmäßig stöberte, sah ich ein Buch von Malaparte, über das sich Geir positiv geäußert hatte, und eines von Galileo Galilei in der Atlantis-Reihe. Ich wendete den Wagen, stupste die Tür mit der Ferse auf und betrat rückwärts mit dem Wagen hinter mir den Laden.
»Ich hätte gerne zwei von den Büchern im Schaufenster«, sagte ich.
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