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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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Frieden nach einem langen und glücklichen Leben? In dem der perfekte Kontrast zwischen dem weißen, harten, kalten Steingut der Kaffeetasse und der schwarzen, fließenden und heißen Flüssigkeit des Kaffees nur den vorläufigen Endpunkt auf einer Wanderung durch die Dinge und Phänomene der Welt bildete? Denn hatte sie nicht irgendwann einmal Roten Fingerhut auf einer Geröllhalde gesehen? Hatte sie nicht an einem der nebligen Novemberabende, die diese Stadt mit solcher Mystik und Schönheit erfüllen, im Park einen Hund gegen einen Laternenmast pinkeln sehen? Denn ah, ah, ist die Luft nicht voller winzig kleiner Regenpartikel, die sich nicht nur wie ein Film auf Haut und Wolle, Metall und Holz legen, sondern
auch das Licht ringsum reflektieren, so dass alles im Grau glitzert und glimmt? Hatte sie nicht einen Mann zunächst das Kellerfenster auf der anderen Seite des Hinterhofs einschlagen sehen, um es anschließend zu öffnen und hineinzuklettern, um zu stehlen, was immer sich dort befinden mochte? Die Wege der Menschen sind wahrlich seltsam und verschlungen! Besaß sie nicht einen kleinen Metallständer mit einem Salz-und Pfefferstreuer, beide aus gerilltem Glas, die Verschlüsse jedoch aus dem gleichen Metall wie der Ständer, und mit vielen kleinen Löchern, so dass man Salz beziehungsweise Pfeffer streuen konnte? Und auf was waren sie nicht alles gestreut worden! Schweinebraten, Lammkeulen, gelbe und herrliche Omeletts mit grünen Stücken Schnittlauch darin, Erbsensuppen und Rinderbraten. Randvoll mit all diesen Eindrücken, die jeder für sich genommen ein Erlebnis fürs Leben bildeten, war es vielleicht nicht weiter verwunderlich, dass sie auf ihrem Stuhl Ruhe und Frieden suchte und nicht den Eindruck erweckte, noch etwas von der Welt in sich aufzunehmen.
    Der Mann vor mir hatte endlich seine Bestellung bekommen, drei Caffè Latte, offenbar unglaublich schwer hinzubekommen, und die Bedienung mit den schwarzen, schulterlangen Haaren, den sanften Lippen und den schwarzen Augen, die so leicht lebhaft wurden, wenn sie jemanden ansahen, den sie kannten, die nun aber neutral blieben, sahen mich an.
    »Einen schwarzen Kaffee?«, sagte sie, bevor ich dazu kam, etwas zu bestellen.
    Ich nickte und seufzte, als sie sich umdrehte, um ihn zu holen. Also war auch ihr der triste, große Mann mit Flecken von Kinderbrei auf den Pullovern aufgefallen, der sich nie die Haare wusch.
    In den wenigen Sekunden, die sie benötigte, um eine Tasse zu nehmen und den Kaffee einzugießen, streifte mein Blick sie. Auch sie trug schwarze, kniehohe Stiefel. Sie waren in diesem
Winter groß in Mode, und ich wünschte, sie wären es immer.
    »Bitte sehr«, sagte sie.
    Ich reichte ihr den Hunderter, sie nahm ihn mit ihren sorgsam manikürten Fingern entgegen, mir fiel auf, dass der Nagellack durchsichtig war, sie zählte das Wechselgeld in der Kasse ab und legte es in meine Hand, während das Lächeln, das sie mir zuwarf, dazu überging, den drei Freundinnen hinter mir in der Warteschlange zu gelten.
    Der Anblick des Buchs von Dostojewski auf meinem Tisch war nicht unbedingt verlockend. Die Schwelle zum Lesen wurde immer höher, je weniger ich las, es war ein typischer Teufelskreis. Hinzu kam, dass ich mich nicht gerne in der Welt aufhielt, die Dostojewski beschrieb. Ganz gleich, wie sehr ich mich mitreißen ließ und wie groß meine Bewunderung für sein Werk war, konnte ich doch nicht das Unbehagen abschütteln, das die Lektüre seiner Bücher mir einflößte. Oder nein, Unbehagen ist das falsche Wort. Unwohlsein trifft es besser. In Dostojewskis Welt fühlte ich mich unwohl. Dennoch schlug ich es auf und machte es mir auf der Couch zum Lesen bequem, nachdem ich einen kurzen Blick durch das Lokal geworfen hatte, um mich zu vergewissern, dass mich keiner dabei beobachtete.
     
    Vor Dostojewski war das Ideal, selbst das christliche Ideal, immer rein und stark, es gehörte zum Himmel, dem für fast alle unerreichbaren. Das Fleisch war hinfällig, der Geist schwach, das Ideal dagegen unbeugsam. Beim Ideal dreht sich alles darum, an es heranzureichen, durchzuhalten, den Kampf aufzunehmen. In Dostojewskis Büchern ist alles menschlich, oder vielmehr, das Menschliche ist alles, auch die Ideale, die auf den Kopf gestellt werden: erreicht werden sie, wenn man aufgibt, sich fallen lässt, sich eher mit Nicht-Willen als mit Willen füllt. Demut und Selbstauslöschung, das sind die Ideale in Dostojewskis wichtigsten Romanen, und seine Größe

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