Lieben: Roman (German Edition)
fragte nach dem Wert dieses Lebens, wenn es für immer fort war, verwandelt in eine Handvoll feuchter Erde und ein paar verblichene, spröde Knochen? Der Totenschädel, grinste er nicht höhnisch im Grab? Welche Rolle spielte aus dieser Perspektive ein Toter mehr oder weniger? Oh, es gab andere Perspektiven für dieselbe Welt, konnte sie nicht auch als ein Mirakel aus kühlen Flüssen und weitgestreckten Wäldern, spiralförmigen Schneckenhäusern und manntiefen Gletschermühlen, Adern und Gehirnwindungen, öden Planeten und expandierenden Galaxien verstanden werden? Doch, das war möglich, denn Sinn ist nichts, was wir bekommen, sondern etwas, das wir geben. Der Tod macht das Leben sinnlos, weil alles, wonach wir jemals gestrebt haben, mit ihm aufhört, und er macht das Leben sinnvoll, weil seine Gegenwart das wenige, was wir davon haben, unverzichtbar, jeden Augenblick kostbar macht. Aber in meiner Zeit war der Tod entfernt worden, er existierte nur noch als fester Bestandteil in Zeitungen, Fernsehnachrichten und Filmen, wo er nicht den Abschluss eines Verlaufs markierte, die Diskontinuität, sondern angesichts der täglichen Wiederholung im Gegenteil eine Verlängerung des Verlaufs, eine Kontinuität bedeutete, und so seltsamerweise zu unserer Sicherheit und unserem Halt geworden war. Ein Flugzeugabsturz war ein Ritual, das sich regelmäßig wiederholte, immer das Gleiche enthielt, und wir waren selber nie ein Teil
davon. Geborgenheit, aber auch Spannung und Intensität, denn man stelle sich nur vor, wie schrecklich das für die Menschen in ihren letzten Sekunden gewesen sein muss … Fast alles, was wir sagten und taten, enthielt diese Intensität, die in uns ausgelöst wurde, aber nichts mit uns zu tun hatte. Wie war das, lebten wir das Leben anderer? Ja, alles, was wir nicht hatten und nicht erlebten, hatten wir und erlebten wir trotzdem, denn wir sahen es, und wir nahmen daran teil, ohne selber dort zu sein. Nicht nur manchmal, sondern täglich … Und nicht nur ich und alle, die ich kannte, sondern ganze, große Kulturen, ja, fast alle, die es gab, die ganze verdammte Menschheit. Alles hatten sie erforscht und sich angeeignet, wie es das Meer mit dem Regen und dem Schnee macht, und das Ding oder den Ort, den wir nicht herangezogen und mit Menschlichkeit aufgeladen hatten, gab es nicht: Unser Verstand war dort gewesen. Für das Göttliche war das Menschliche stets klein und unbedeutsam, und wegen des riesigen Werts dieser Perspektive, der vielleicht nur verglichen werden kann mit der Erkenntnis, dass Wissen immer auch ein Fall war, muss die Vorstellung vom Göttlichen überhaupt erst entstanden sein und nun aufgehört haben. Denn wer grübelte heute noch über die Sinnlosigkeit des Lebens nach? Teenager. Sie waren die Einzigen, die sich noch mit den existentiellen Fragen beschäftigten, wodurch diese etwas Kindisches und Unreifes bekommen hatten, so dass es für einen erwachsenen Menschen mit intaktem Anstandsgefühl folglich doppelt unmöglich wurde, sich noch mit ihnen auseinanderzusetzen. Seltsam war dies jedoch nicht, denn nie ist das Lebensgefühl stärker und verzehrender als in der Jugendzeit, in der man zum ersten Mal in die Welt eintritt und alle Gefühle neue Gefühle sind. Dann steht man mit den kleinen Bahnen seiner großen Gedanken da und hält mal hier, mal dort Ausschau nach einer Öffnung, durch die sie abgelassen werden können, ehe der Druck zunimmt.
Und wen entdeckt man dann früher oder später für sich, wenn nicht Onkel Dostojewski? Dostojewski ist zu einem Schriftsteller für Teenager geworden, die Frage des Nihilismus ist eine Frage für Teenager. Wie es dazu kam, ist nicht leicht zu sagen, aber es hat jedenfalls zur Folge, dass diese ganze gewaltige Problemstellung für unmündig erklärt worden ist, während im selben Atemzug alle kritische Kraft nach links gelenkt wird, wo sie sich in Vorstellungen von Gerechtigkeit und Gleichheit auflöst, die ja die gleichen sind, durch die man die Entwicklung der Gesellschaft und das abgrundlose Leben, das wir führen, sowohl legitimiert als auch steuert. Der Unterschied zwischen dem Nihilismus des 19. Jahrhunderts und unserem ist der zwischen Leere und Gleichheit. 1949 schrieb der deutsche Schriftsteller Ernst Jünger, dass wir uns in Zukunft dem Weltstaat nähern würden. Heute, da die liberale Demokratie auf dem Gebiet der Gesellschaftsformen schon bald die Alleinherrschaft antreten wird, sieht es ganz so aus, als würde er Recht behalten.
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