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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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tagebuchartig und offen für die Zukunft, mit allem, was in den letzten Jahren passiert war, als dunklem Unterstrom – in Gedanken nannte ich es das Stockholmer Tagebuch –, oder ich arbeitete an der Geschichte weiter, die ich vor meiner Abreise hierher an drei Tagen begonnen hatte und in der es um einen nächtlichen Ausflug in die Schären in jenem Sommer ging, in dem ich zwölf war und bei dem Vater Krabben fing und ich eine tote Möwe fand. Die Stimmung dort, die Wärme und die Dunkelheit, die Krabben und das Lagerfeuer, all diese schreienden Möwen, die ihre Nester verteidigten, als Yngve, Vater und ich über das Eiland gingen, hatte etwas, aber vielleicht nicht genug, um einen ganzen Roman zu tragen.
    Tagsüber lag ich lesend im Bett, und Geir schaute des Öfteren vorbei, dann aßen wir gemeinsam zu Mittag, und abends schrieb oder lief ich oder nahm die Bahn zu Geir und Christina hinaus, die mir im Laufe dieser zwei Wochen nahegekommen waren. Neben den Gesprächen über Literatur und allem, was Geir an politischen und ideologischen Verhältnissen aufgriff, sprachen wir auch ständig über Dinge, die uns näher lagen. Für mich war dies unerschöpflich, alles kam hoch, von Ereignissen aus meiner Kindheit bis zum Tod meines Vaters, von den Sommern in Sørbøvåg bis zu jenem Winter, in dem ich Tonje kennen lernte. Geir war scharfsinnig, er sah das Ganze von außen und durchschaute es, immer wieder. Seine Geschichte, die später Gestalt annahm, als hätte er sich zunächst vergewissern müssen, dass er sich auf mich verlassen konnte, war fast das Gegenteil von meiner. Während er aus einer Arbeiterfamilie ganz ohne Ambitionen stammte, in der es kein einziges Buch in den Regalen gab, stammte ich aus einer Mittelschichtsfamilie, in der sich sowohl meine Mutter als
auch mein Vater als Erwachsene fortgebildet hatten, um weiterzukommen und in der die gesamte Weltliteratur zugänglich war. Während er zu denen gehörte, die sich auf dem Schulhof prügelten und der Schule verwiesen und zum Schulpsychologen geschickt wurden, gehörte ich zu den Schülern, die stets versuchten, die Gunst der Lehrer zu gewinnen, indem sie möglichst gut waren. Während er mit Soldaten spielte und davon träumte, eines Tages eine eigene Schusswaffe zu besitzen, spielte ich Fußball und träumte davon, eines Tages Profi zu werden. Während ich bei Schülersprecherwahlen antrat und eine Hausarbeit über die Revolution in Nicaragua schrieb, war er Mitglied der Jugendbürgerwehr und in der Jugendorganisation der rechtskonservativen Fortschrittspartei. Während ich ein Gedicht über abgeschnittene Kinderhände und die Grausamkeit des Menschen schrieb, nachdem ich Apocalypse now gesehen hatte, untersuchte er die Möglichkeit, amerikanischer Staatsbürger zu werden, um dort zur Armee zu gehen.
    Trotz all dieser Dinge konnten wir uns unterhalten. Ich verstand ihn, er verstand mich, und zum ersten Mal in meinem Leben als Erwachsener konnte ich einem anderen Menschen vorbehaltlos alles sagen, was ich dachte.
    Ich entschied mich für die Krabben- und Möwengeschichte, schrieb zwanzig Seiten und schrieb dreißig, die kurzen Laufrunden wurden immer länger und führten mich bald rund um die ganze Insel Södermalm. Gleichzeitig verschwanden die Pfunde, und die Telefonate mit Tonje wurden seltener.
    Dann traf ich Linda, und die Sonne ging auf.
    Anders kann ich es nicht ausdrücken. In meinem Leben ging die Sonne auf. Anfangs nur wie ein Lichtstreif am Horizont, wie um mir zu sagen, hierher musst du schauen. Dann kamen die ersten Strahlen, alles wurde deutlicher, leichter, lebendiger, und ich wurde immer glücklicher, und schließlich
stand sie mitten am Himmel meines Lebens und schien und schien und schien.
     
    Das erste Mal fiel Linda mir im Sommer 1999 ins Auge, als wir an einem Seminar für nordische Literaturdebütanten in der Volkshochschule Biskops-Arnö vor den Toren Stockholms teilnahmen. Sie stand mit sonnenbeschienenem Gesicht vor einem Gebäude. Sie trug eine Sonnenbrille, ein weißes T-Shirt mit einem roten Streifen auf der Brust, eine militärgrüne Hose. Sie war schlank, und schön. Sie hatte eine finstere, unbändige, erotische, destruktive Ausstrahlung. Ich ließ alles stehen und fallen.
    Als ich sie zum zweiten Mal sah, war ein halbes Jahr vergangen. Sie saß an einem Tisch in einem Café in Oslo, trug eine große Lederjacke, eine blaue Jeans, schwarze Boots und war so verletzlich, aufgelöst und verwirrt, dass ich sie am liebsten

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