L(i)ebenswert (German Edition)
Ein Muskel zuckte in Gerons Wange, doch er schüttelte bloß den Kopf und brach das Siegel, damit er den Korken ziehen konnte.
„Ein Schluck muss reichen!“, mahnte er, bevor er Ninosh die Flasche an die Lippen hielt.
Der Trank war bitter, dennoch versuchte Ninosh jeden Tropfen davon auszukosten. Der Feldscher hatte von zwei Fingerbreit als ausreichende Portion geredet. Wahrscheinlich würde er mit dem einen Schluck nicht weit kommen, aber es war mehr als nichts.
„Es dauert sicher eine Weile, bis er wirkt. In der Zwischenzeit verlange ich Antworten.“
„Auf welche Frage?“
„Was du getan hast. Ich will wissen, was für eine Art Mensch das ist, mit dem ich hier draußen festsitze.“
Ninosh spürte deutlich, dass Geron ihm unbedingt vergeben wollte, gleichgültig, welches Verbrechen er begangen haben mochte. Er war ein guter Mann, der auf dem besten Wege war, sich in ihn zu verlieben. Das durfte allerdings nicht geschehen, denn Ninosh wusste: Er hatte keine Vergebung verdient. Keine Gnade, kein Verständnis. Ninosh presste die Lippen zusammen. Es würde ihm nicht leicht fallen, doch er würde die Wahrheit erzählen, zumindest so viel davon, wie Geron wissen musste.
„Ich habe es dir bereits gesagt. Du hättest mich nicht retten sollen, ich war es nicht wert, denn ich bin in jeder Hinsicht meines Vaters Sohn. Ich habe sechs wehrlose Menschen abgeschlachtet. Ihre Kehlen aufgeschlitzt, in ihrem Blut gebadet. Ich habe ihr Gewimmer um Gnade genossen, und wie sie vor mir auf dem Boden gekrochen sind, um zu entkommen. Ich habe ihnen in die Augen gesehen, so wie ich jetzt dir in die Augen sehe, und gewartet, bis das Leben aus ihnen gewichen war.“
Ninosh ertrug die Bilder, die sich in sein Bewusstsein eingebrannt hatten. Der Gestank nach Blut und Tod klebte in seiner Nase. All das viele Blut … Er würde es niemals mehr abwaschen können.
Geron wich zurück, bleich vor Entsetzen.
„War es Notwehr?“, presste er nach mehreren Anläufen heraus.
„Nein. Sie waren mir völlig ausgeliefert, ohne zuvor eine Bedrohung gewesen zu sein.“
„Dein … dein Vater hatte es dir befohlen?“ Es klang hoffnungsvoll, beinahe flehend. Wenn irgendjemand ihn dazu gezwungen hätte, könnte Geron es sicherlich besser begreifen. Aber auch diese Entschuldigung gab es nicht.
„Niemand hat es mir befohlen. Ich habe es aus eigenem Antrieb getan, einfach, weil ich es für richtig hielt.“
„Kanntest du sie?“
Geron atmete schwer, vermutlich kämpfte er gegen den Brechreiz.
Bei dieser Frage musste Ninosh einen Moment zögern, bevor er den Kopf schüttelte. Er war nicht bereit, die gesamte Geschichte zu erzählen. Wenn Geron beschließen würde, ihn danach … Ninosh wusste immer noch nicht, ob er sterben oder leben wollte. Sterben wäre ihm lieber. Er musste das hier genau richtig angehen. Mit keinem Wort lügen, lediglich verschleiern, was sie wirklich bedeuteten.
„Sollte ich ihnen jemals zuvor begegnet sein, kann ich mich nicht daran erinnern. Sie hatten mich arglos zum Essen geladen.“
„Wolltest du sie berauben? Irgendeinen Grund muss es doch gegeben haben …“
„Ich habe ihnen nichts gestohlen, ausgenommen ihrem Leben.“ Ninosh zuckte die Schultern, auch wenn diese nachlässige Geste ihm starke Schmerzen bescherte.
„Bereust du es?“
Geron hatte sich gefangen, sein Gesicht wie sein Tonfall waren hart. Ninosh zwang sich zu einem schmalen Lächeln, hoffend, dass es nicht zu sehr wie eine Grimasse ausfiel und schüttelte den Kopf. Oh nein, er bereute nichts … Er hasste sich dafür, aber er würde es immer wieder tun.
„Also du bereust es nicht, bist dir allerdings bewusst, dass du ein schreckliches Verbrechen begangen hast. Du wirkst auch nicht, als wärest du stolz auf deine Tat.“
„Das stimmt so nicht. Ich weiß, dass ich ein widerwärtiges Subjekt bin, das nicht verdient hat, Hilfe, Gnade oder Vergebung zu empfangen. Doch ich bin stolz auf meine Tat, sehr stolz sogar!“
Geron spuckte vor ihm aus und wandte sich ruckartig um. Ninosh atmete derweil erleichtert auf. Das war gut gelaufen! Geron verachtete ihn nun noch mehr als zuvor.
„Lass mich hier zurück. Ich behindere dein Vorwärtskommen und benötige Hilfe bei zu vielen Dingen, wie du weißt. Du wirst es schon allein schwer haben, genug Nahrung zu finden. Mit mir als Klotz am Bein schaffst du es möglicherweise nicht.“
„Für jemanden, der von sich selbst behauptet, ein gewissenloser Mörder zu sein, bist du merkwürdig eifrig
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