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L(i)ebenswert (German Edition)

L(i)ebenswert (German Edition)

Titel: L(i)ebenswert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Gernt
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ihnen entwurzelte. Der Boden bebte, als der uralte Riese mit ohrenbetäubendem Lärm niederkrachte. Ninosh wünschte, er könnte bei seinem Schicksalsgefährten Schutz und Trost suchen. Sich bei ihm anlehnen, die Angst vor der Naturgewalt mit ihm gemeinsam durchstehen, Wärme und Geborgenheit finden …
    Aber Geron saß so weit wie möglich von ihm abgerückt und würde ihm vermutlich tatsächlich die Nase brechen, sollte Ninosh ihm zu nahe kommen.
    Also blieb er steif sitzen, versuchte nicht zu zittern – das nahmen die Rippen ihm übel – und hielt den Kopf von Geron abgewandt. Auf diese Weise fühlte er sich weniger beobachtet, während er den Tränen freien Lauf ließ, denn er traute den Regentropfen allein nicht, sämtliche Spuren fortzuspülen.

    Der Regen hielt fast den ganzen Tag über an. Geron wurde fast wahnsinnig daran, zum absoluten Nichtstun gezwungen zu sein. Auch auf den Patrouillen war die Langeweile oft der gefährlichste Feind, aber da konnte man sich wenigstens bewegen und war von Kameraden umgeben, mit denen man sprechen konnte. Im Lager gab es immer etwas zu tun, und wenn das Wetter so schlecht war, dass niemand freiwillig den Kopf ins Freie steckte, konnte man sich in seinem Zelt ausstrecken. Mit der Zeit drang die Feuchtigkeit zwar durch, sodass alle Sachen klamm wurden, aber man war nicht schutzlos Wind und Wetter ausgesetzt. Eingewickelt in seine Decke konnte man versuchen, die Langeweile zu verschlafen. Oder sich jemanden zum Kartenspielen suchen. Die Waffen pflegen. Irgendetwas!
    Hier war er gezwungen, regungslos unter einem Strauch zu hocken. Er war vollkommen nass, als wäre er in die Tibba gesprungen, er fror, war hungrig und konnte noch nicht einmal mit seinem Gefährten reden, dem er kein unnötiges Wort vergönnen wollte. Zumal Ninosh derart elend aussah, dass der vermutlich auch unter besseren Umständen nicht hätte zuhören können.
    Als es endlich aufklarte, zerrte er seinen Gefangenen aus dem Unterschlupf heraus. Jeder einzelne Schritt, der sie näher ans Ziel brachte, war bedeutsam!
    Leider hatte der starke Regen den Boden in eine Art Sumpf verwandelt. Sie mussten wie die Störche durch den Matsch staksen, jedes Grasbüschel und jeden Stein als festen Untergrund ausnutzen und kamen trotz aller Mühe kaum voran.
    „Geron …“, flüsterte es irgendwann hinter ihm.
    „Hab ich dir nicht gesagt, dass du zu schweigen hast?“, brüllte er unbeherrscht. Ninosh musste heftig mit den Armen rudern, um nicht zu stürzen, als Geron zu ihm herumfuhr. All der Frust, der sich in den vergangenen Stunden aufgebaut hatte, drohte überzukochen. Nur mit größter Mühe hielt er sich davon ab, über Ninosh herzufallen und ihn zu schlagen, bis dieser nie wieder einen Laut von sich geben konnte.
    „Was willst du?“, schrie er stattdessen.
    Statt einer Antwort wies Ninosh zum Fluss. Dort, auf einer Sandbank, lag das Wrack des Transportschiffes. Es war nicht völlig ausgebrannt, oder zumindest schien es, als wäre ein Teil der Außenseite von den Flammen verschont geblieben.
    Geron schaute prüfend auf die Gegebenheiten: Er wollte unbedingt zum Schiff gelangen, dort gab es mit Sicherheit Material, das ihnen in irgendeiner Weise nützlich sein würde. Die Sandbank, auf der das Transportschiff gestrandet und zur Seite gekippt war, lag ungefähr in der Mitte der Tibba. Nahe vor Geron befand sich eine zweite Untiefe, vielleicht eine Mannslänge vom Ufer entfernt. Die Strömung war zu stark und das Wasser zu tief, um dorthin zu waten, doch mit einem beherzten Sprung ließ sich das Hindernis leicht überwinden. Das bedeutete allerdings, dass Geron seinen Gefangenen zumindest vorerst zurücklassen musste, denn Ninosh war nicht in der Verfassung für Sprünge, gleichgültig wie kurz. Geron wägte ab, ob er es bei einem einfachen Befehl belassen sollte. Weggelaufen würde Ninosh jedenfalls nicht. Aber vielleicht Selbstmord begehen, wenn niemand da war, um ihn zu hindern? Jetzt, wo Geron seine mitfühlende Seite vollständig unterdrückte, könnte der Mann auf dumme Gedanken kommen.
    „Du bleibst hier!“, bestimmte er harsch und zwang Ninosh mit einem harten Griff in den Nacken, sich frontal vor einem kleinen Findling niederzulassen und ihn mit den Armen zu umschlingen, sodass Geron ihn fesseln konnte. Im Tageslicht wurde besonders deutlich, wie oft Ninosh dies in letzter Zeit hatte erdulden müssen: Die dünne, empfindsame Haut an den Gelenken war beinahe bis auf das rohe Fleisch abgeschürft und

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