L(i)ebenswert (German Edition)
schon kaum atmen konnte.
Alle unmittelbaren Bedürfnisse seines Gefangenen waren befriedigt. Bis auf eines, das Geron vor einen harten Konflikt stellte: Wenn er ihm eine ausreichende Dosis des Schmerztrankes gab und ihm half, eine halbwegs erträgliche Körperhaltung zu finden, würde Ninosh den dringend benötigten Schlaf bekommen und morgen schneller und weiter laufen können. Damit würde er ihm allerdings etwas Gutes tun. Der bloße Gedanke widerte Geron an! Diese Bestie hatte ein halbes dutzend Menschen ermordet und war stolz darauf! Was für eine Tat musste das gewesen sein, dass selbst der König ihn nicht mehr schützen wollte!
Und wenn er darauf verfällt, mich im Schlaf zu töten, damit er selbst ungehindert sterben kann?
Auf diesen Gedanken war er bislang noch gar nicht gekommen, aber es stimmte: Selbst in seinem schlechten Zustand könnte Ninosh ihn leicht ihm Schlaf umbringen, indem er ihm mit einem Stein oder Stock den Schädel einschlug, oder das Messer benutzte, um auch ihn wie ein Schwein zu schächten.
Also war es sinnvoll, ihn zu betäuben. Außerdem …
Geron zerrte sich den Gürtel aus dem Hosenbund. Es war ein schmales Stück Stoff, das sich leichter und rascher binden ließ als mit einem Ledergürtel hantieren zu müssen. Ein wichtiger Aspekt, wenn man auf Patrouille unterwegs war.
Er beugte sich über den Gefangenen, schleifte ihn ungeachtet von dessen schwachen Protesten über den Boden, lehnte ihn rücklings an den nächsten geeigneten Baumstamm. Ninosh wimmerte, als er ihm die Arme nach hinten zwang und sie mit dem Stoffband fesselte. Nackte Panik stand in dem tränenüberströmten Gesicht, als Geron sich anschließend neben ihm hinkniete. Es war schrecklich zu wissen, dass er für dieses Leid verantwortlich war. Hastig unterdrückte er die unangemessene Gewissensregung, zog die Flasche hervor und brachte Ninosh dazu, zwei große Schlucke von der Medizin zu nehmen.
Es dauerte endlose Minuten, bis der junge Mann sich beruhigte und wieder langsamer atmete.
Geron legte sich derweil hin, auch er brauchte Schlaf. Seine Füße brannten noch immer von dem heutigen Marsch, die Fußsohlen waren an zahllosen Stellen blutig zerkratzt, er hatte Blasen und ungefähr tausend Splitter in der Haut stecken. Ninosh war es in dieser Hinsicht erstaunlicherweise viel besser ergangen, anscheinend war das Prinzlein es aus irgendeinem Grund gewohnt, barfuß zu laufen. Geron würde morgen heftig humpeln und auch nicht allzu weit marschieren können. Nun, das war lästig, aber er würde es überleben. Seine verwöhnten Füße mussten halt abgehärtet werden, im schlimmsten Fall würden sie einen Ruhetag einlegen müssen. Dabei wünschte er sich sehnlich, aus der Wildnis entfliehen zu dürfen, diesen wahnsinnigen Mörder loszuwerden, in einem anständigen Bett zu liegen, nicht von Mückenheerscharen zerstochen zu werden …
Ein greller Blitz, gefolgt von einem Donnerschlag, riss Ninosh aus blutigen Träumen. Er wünschte augenblicklich, er wäre zurück in seiner inneren Schreckenswelt, denn hier in der Wirklichkeit erging es ihm nicht besser: Sein gesamter Körper war entweder taub oder brannte, pochte, stach, krampfte, juckte … Die Luft war so erdrückend, dass sie mit Blei gefüllt zu sein schien und jetzt öffnete auch noch der Himmel seine Schleusen und schickte strömenden Regen herab. Es dämmerte bereits wieder, Ninosh hatte tatsächlich dank des Schmerzmittels einige Stunden schlafen können. Der Nachteil war, dass er zu allem anderen nun an hämmernden Kopfschmerzen, Übelkeit und Benommenheit litt, was sicherlich eine Nebenwirkung des Trankes war.
Er schrak zusammen, als ein großer, unförmiger Schatten sich auf ihn zubewegte, bis er begriff, dass es Geron war. Der Soldat hockte sich hinter ihm zu Boden und kämpfte fluchend mit den Knoten der Fesseln. Ninosh wusste nicht, warum die notwendig gewesen sein sollten. War es als zusätzliche Folter gedacht, oder hatte Geron ihn vielleicht sogar auf diese Weise sichern wollen, damit er nicht im Schlaf wegrutschte und zu Boden stürzte?
„Vorwärts, beweg deinen faulen Hintern!“
Da es keinen sicheren Unterschlupf gab, mussten sie sich mit Gestrüpp zufrieden geben, dessen Äste hoch genug waren, dass sie darunterkriechen konnten, und dicht genug, um etwas Schutz vor Regen und Sturmwinden zu bieten.
Das Gewitter tobte mit wütender Gewalt: Hagelschauer, heftige Böen, die Zweige und Blätter abrissen und sogar einen Baum ganz in der Nähe von
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