Lieber Dylan
Stimmen sprach, während er sie fütterte. Er ließ sie verrückte Sachen sagen, zum Beispiel: »Nein, danke, für mich nicht – ich bin auf Diät« oder: »Wie kannst du es wagen, mich mit deinem stinkenden alten Brot abzuschmeißen?« Und dann machte Mum auch noch mit, sprach mit der Stimme der Entenmutter und tat so, als wäre sie eine richtig boshafte Tyrannin, die das ganze Brot für sich wollte. Und das war noch komischer, denn es war genau das, was die Entenmutter machte, sie schubste den Vater aus dem Weg, sodass sie das Brot als Erste erwischte.
Ich holte tief Luft und schloss die Augen. »Sie lassen mich denken, dass man, egal wie blöd das Leben manchmal sein kann, immer seine glücklichen Erinnerungen hat, wie eine Kiste mit wertvollen Juwelen, die einen zum Lächeln bringen.« Dann hielt ich den Atem an und wartete darauf, dass Jamie lachte oder sich über mich lustig machte. Aber er machte gar nichts, und als ich meinen Mut zusammennahm und auf ihn hinuntersah, betrachtete er noch immer die Enten und nickte langsam. Als ob er wirklich verstanden hätte, was ich gesagt hatte. Danach gingen wir zusammen unseren Text durch, bis zu der Szene, wo Bugsy und Blousey zusammen ausgehen. Als wir zu der Stelle kamen, in der ich ihn »umarmen« muss, ignorierte ich einfach die Regieanweisungen, doch ein paar Zeilen weiter, als Bugsy seinen Finger küsst und damit Blouseys Nase berührt, tat Jamie es wirklich und sah mich total merkwürdig an, als ob er mir mit seinen großen braunen Augen irgendetwas sagen wollte. Aber genau in diesem Moment kamen die anderen zur Mittagspause nach draußen gestürmt, also musste ich wieder reingehen und mich um Michaela kümmern. Mir war wirklich komisch zumute. Als ob etwas passiert wäre, aber niemand außer mir und Jamie wüsste davon. Ein bisschen, als wenn man eine Nachricht mit unsichtbarer Tinte schreibt, und nur man selbst und der, der den Marker für die Tinte hat, weiß, dass dort etwas steht. Für alle anderen ist es nichts als ein leeres Blatt Papier.
Noch einmal versuchte ich, Debbie zu sagen, dass ich morgen nicht kommen kann, aber sie rannte los, um in der Hauptstraße ein paar Wasserpistolen für die Aufführung zu kaufen, also hatte ich wieder keine Chance. Und dann kamen Jessica und Kate Nummer eins nach drinnen, um mit mir zu reden, was mich ein bisschen überraschte, denn normalerweise wollen sie sich in der Mittagspause lieber sonnen und rauchen. Das Erste, was Jessica zu mir sagte, war: »Was hast du denn mit deinen Haaren gemacht?« Und ihr Ton war irgendwie bissig. Ich fing an, ihr von dem Artikel in der Zeitschrift zu erzählen, aber sie lächelte nur und schüttelte den Kopf. »Vergiss es«, sagte sie, und dann fingen sie und Kate an, darüber zu reden, auf wen sie im Workshop am meisten abfuhren. Es war komisch, denn wenn Jessica früher über Jamie Phelps gesprochen hatte, hatte ich ihn immer mit ihren Augen gesehen, aber nach der Sache heute am Teich kommt er mir vor wie ein anderer Mensch. Ich nehme an, wir alle verpassen anderen Menschen unsere eigenen persönlichen Definitionen, stimmt’s? Für Jessica ist Jamie zum Beispiel »ein total gut aussehender Typ«, während ich ihn als den Jungen mit dem wehmütigen Lächeln sehe. Das sagte ich ihr aber nicht, stattdessen zwang ich mich einfach, zu lächeln und zu nicken, während sie weiter und weiter darüber redete, wie sie ihm »das Gesicht abknutschen« wollte.
Es war merkwürdig, weil ich Jessica sonst immer wirklich unterstütze, mit ihren Diäten und ihren Schönheitskuren und ihrem Liebesleben, aber heute hätte ich sie am liebsten angeschrien, sie solle den Mund halten, vor allem weil sie immer noch mit diesem dämlichen amerikanischen Akzent spricht. Glaubst du, man kann aus seinen Freundinnen herauswachsen wie aus seinen Klamotten? Als ich heute Jessica ansah, wie sie am Rand der Bühne saß und über Jamie plapperte, erinnerte sie mich an das rote Partykleid aus Samt, das ich mal hatte, als ich ein kleines Mädchen war. Es hatte tolle Plastikedelsteine auf dem Saum, und als ich es das erste Mal sah, fand ich, es sei absolut umwerfend und ich sähe so erwachsen aus, aber heute kommt es mir nur noch dämlich und übertrieben vor.
Nach der Mittagspause wollte Debbie an den Gesang- und Tanzeinlagen arbeiten, wir waren also mega beschäftigt, und der Nachmittag verging wie im Flug. Ganz am Schluss musste ich Ordinary Fool singen, aber diesmal fühlte ich mich nicht mal annähernd so
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