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Lieber Dylan

Lieber Dylan

Titel: Lieber Dylan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Curham
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gemacht habe, hatte der Himmel eine schreckliche graugelbe Farbe, als litte er an Gelbsucht, und die Luft war dick, wie elektrisch aufgeladen. Als wir zurück nach Hause kamen, hing dem armen Woodstock die Zunge bis auf den Boden, solchen Durst hatte er. Und das Gewitter hat noch immer nicht begonnen. Ich wälze mich seit Stunden im Bett hin und her, so heiß ist es. Kurz war ich eingeschlafen und habe etwas Schreckliches von Bruce geträumt. Gleich nach seinem Tod habe ich gern von ihm geträumt, weil es das Nächstbeste war, wenn ich ihn schon nicht lebend wiedersehen konnte. Aber so ist es nichtmehr. Nicht bei den Träumen, die ich jetzt habe. Heute Nacht habe ich geträumt, er wäre in einer Sanddüne eingeschlossen, und ich versuchte ihn herauszuziehen, aber zum Ziehen hatte ich nicht mehr als eines dieser Fischernetze für Kinder, die sie überall an der Küste verkaufen, und es war nicht stark genug, und er glitt mehr und mehr aus meiner Reichweite. Hmm, man braucht kein Genie zu sein, um herauszufinden, was das zu bedeuten hatte, oder? Aber was ist, wenn ich ihn nicht loslassen will? Was, wenn ich mich lieber mit ihm hinunterziehen lasse, als ihn allein gehen zu lassen?
    Tut mir leid, Süße. Ich sabbele mal wieder ohne Punkt und Komma vor mich hin. Oh, ich glaube, ich habe gerade ein Donnern gehört. Ich werde gehen und es mir von Bruces Fenster aus ansehen. Es gibt so ziemlich nichts, das sich mit einem Sturm über dem Meer vergleichen lässt. Maile mir, SOBALD du die Möglichkeit hast.
    Alles Liebe,
    Nan xx

    Von: [email protected]
    An: [email protected]
    Betreff: Stürmisches Wetter
    Datum: Mittwoch, 9. August, 16:59

    Ein neuer Tag und noch immer keine Mail. Ich weiß nicht, was ich machen soll, denn ich möchte nicht, dass du denkst, ich würde mir keine Sorgen machen, also werde ich dir wohl weiter Nachrichten senden in der Hoffnung, dass du wenigstens spüren kannst, dass ich an dich denke   – ein bisschen so wie an dem Tag, als ich dir die Mail über das Meer geschrieben habe. Der Sturm, als er dann endlich kam, war spektakulär. Ich habe beide Fenster in Bruces Büro so weit wie möglich aufgeworfen und saß mit seiner alten Strickjacke um die Schultern auf der Fensterbank und sah zu, wie die Elemente sicheine Schlacht lieferten. Das Meer war wie ein gigantischer Kessel, in dem es brodelte und schäumte, und ich konnte nichts weiter tun, als dieser Kraft des Ganzen voller Ehrfurcht zuzusehen. Und dann geschah etwas ziemlich Unglaubliches, Georgie. Ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich dir das erzähle, aber ich habe das Gefühl, ich muss es jemandem erzählen, und du bist besser als jeder andere. Letzte Nacht war mir nämlich zumute, als hätte ich eine Art von Durchbruch erzielt. Diese scharfkantige Scherbe des Schmerzes, die sich in mein Herz gegraben zu haben schien, lockerte sich endlich und fiel heraus. Es war der Sturm, der das zustande brachte. Anfangs, als ich sah, wie der Himmel aufbrach, machte ich mir um meine Sicherheit überhaupt keine Sorgen. Tatsächlich fühlte ich mich ziemlich beschwingt. Ich denke, ein Teil von mir hoffte insgeheim, dass der nächste Blitz geradewegs auf mich herunterfahren würde, denn dann hätte ich endlich wieder mit Bruce vereint sein können. Ich stellte mir vor, wie ich durch den Spalt im Himmel hinauffahren würde, dorthin, wo er auf der anderen Seite auf mich warten würde. Aber dann, während der Sturm weiterwütete, geschah etwas Seltsames. Ich ertappte mich dabei, wie ich auf mein Leben und auf alles, was ich getan hatte, zurückblickte. Die Fehler, die Triumphe, das Gelächter, die Tränen. Es war, als würde mein Leben in einem riesigen Buch vor mir liegen, und weißt du, was mir dabei klar wurde? Mir wurde klar, wie viel verdammtes Glück ich gehabt habe. Selbst auf die schlimmsten Tiefpunkte, so erkannte ich, als ich gestern Nacht zurückblickte, folgte wieder ein Hoch. Zum Beispiel, als ich erfuhr, dass ich keine Kinder bekommen konnte (Dylan haben wir adoptiert   – du bist nicht die Einzige, die ein Geheimnis bewahrt hat, Liebling). Irgendwie habe ich diese schreckliche, düstere Entdeckung und die Jahre der Angst, die darauf folgten, überstanden, und mir wurde ein perfekter Sohn geschenkt. Auf jede Seite meiner Lebensgeschichte, die eine Tragödie oder etwas Bedauerliches enthielt, folgte immer ein Grund zur Freude. Und in diesem Augenblick, während der Blitz aufleuchtete und der Donner grollte, wurde mir klar, dass diese

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