Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lieber einmal mehr als mehrmals weniger

Lieber einmal mehr als mehrmals weniger

Titel: Lieber einmal mehr als mehrmals weniger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Moor
Vom Netzwerk:
weg … Hunde … Gassi …», will ich abwehren, doch sie drückt mir unbeeindruckt den verfluchten Hiobs-Elektronikknochen in die Hand.
    «Für dich», sagt sie knapp, schnappt sich den Sweater und zieht ihn sich über, während sie auf der Treppe nach unten verschwindet. Die macht sich’s ja einfach, denke ich, versinkt einfach im Boden und ist weg.
    «A–O?», summt es aus dem Hörer. « AAA -O?»
    «Das ist böse, böse, böse», sagt der kleine Schweizer «Es betrifft gar nicht den Stall oder die Scheune oder die Tiere, nein, viel schlimmer: Es betrifft dich! Persönlich! Jetzt gut Nacht am sächsi! Jetzt heißt es tapfer sein.»
    Ich will aber nicht tapfer sein, ich will nicht erfahren, was es ist, auch nicht, wer es ist, der frühmorgens ausgerechnet und dezidiert
mich
sprechen will. Und schon gar nicht will ich erfahren, warum er das will. Nicht ohne Grund heißt es: «Der Morgen graut», weil frühmorgens am Telefon grundsätzlich nur Grau-en-haftes mitgeteilt wird!
    «A-O? I-A?», macht der Hörer.
    «Ja?», sage ich und stemme das gefühlt vierzig Kilo schwere Plastikteil in Richtung Ohr. «Moor am Apparat.»
    «Ja, sali Dieter, da isch dä Jakob!»

[zur Inhaltsübersicht]
    Jakob
    Jakob! Unser Freund aus den Voralpen, unser Nachbar, damals, in der Schweiz, der Besitzer des nächstgelegenen Hofes.
    «Ja, Jakob! Sali!» Ein Gotthard-Massiv fällt mir vom Herzen. Es ist Jakob, nur Jakob, klar, wer soll’s denn sonst sein am frühen Morgen, das kann ja nur Jakob sein. «Das ist ja eine schöne Überraschung, dass du dich meldest.» Ich freue mich aufrichtig.
    «Was heißt da schön?», flüstert der kleine Schweizer. «Der Jakob würde doch nicht vor sieben Uhr anrufen, nur damit du sagen kannst, dass es schön ist, dass er anruft. Der weiß doch, was Anstand ist, der ruft vor sieben Uhr an, weil er es in seinem Elend nicht mehr aushält zu warten bis am achti, weil es so schlimm ist, was ihm passiert ist, dem armen Jakob! Und was sagst du zu deinem verzweifelten Freund? Schön, dass du anrufst, sagst du, als ob nichts passiert wäre. Geht es noch? Unsensibler Holzklotz.»
    Schande über mich, der kleine Schweizer hat recht. So früh morgens kann das nicht einfach nur ein Wie-geht’s-denn-so?-Anruf sein, das ist ein Hilfeschrei meines Freundes! Beschämt pegele ich meine Stimmlage von höchster Begeisterung runter auf mitfühlend. «Jakob, ich meinte, es ist eine gute Entscheidung, mich jetzt anzurufen. Also: Was ist dir passiert?»
    «Passiert? Was meinsch du mit passiert? Allerhand ischt mir passiert, aber eigentlich auch wieder nichts Bsunders.»
    «Ja, verstehe», sage ich nachdenklich, obwohl ich natürlich gar nichts verstehe. Aber ich begreife: Es muss wirklich etwas Schlimmes geschehen sein. Jakob ist noch in der Verdrängungsphase, man kennt das ja nach großen Katastrophen, bei denen die Leute wie ferngesteuert mit zombieartigen Bewegungen aus dem Flugzeug- oder dem Eisenbahnwrack klettern oder aus der Brandruine und noch gar nicht mitbekommen haben, dass sie gerade etwas ganz, ganz Schlimmes erlebt haben und sich ihnen gerade ein Trauma in die Seele frisst. Die sagen dann auch: «Allerhand, was da passiert ist, aber eigentlich auch wieder nichts Besonderes.» Und erst Jahre später schrecken sie dann nachts schreiend aus dem Schlaf und zittern, weil es eben doch etwas besonders Schlimmes gewesen war, was ihnen da passiert ist. Armer, armer Jakob. Jetzt hängt alles davon ab, ob es mir gelingt, sein Trauma im Keim zu ersticken. Er muss darüber reden. Jetzt. Sonst ist es zu spät. «Jakob, ich bin richtig froh, dass du mich anrufst, um darüber zu reden.» Meine Stimme hat das perfekte Therapeuten-Timbre. «Also, Jakob, was genau ist denn dieses
nichts Besondere

    «Äh … ich weiß jetzt gar nöd …»
    «Manchmal ist es schwer darüber zu sprechen, weil man nicht weiß, wo man anfangen soll. Aber wir haben Zeit, Jakob. Also, fang einfach am Anfang an.»
    Jakob lacht. Aha, auch typisch, manchmal muss sich die Erinnerung an das Unfassbare, das man durchgemacht hat, mit einem Lachen den Weg nach außen bahnen. Ich warte geduldig. Jetzt bloß keinen Druck ausüben, das könnte Jakobs Seele wieder verschließen, vielleicht sogar für immer. Ich nehme deutlich wahr, wie mir mein kleiner Schweizer anerkennend zunickt.
    Jakob lacht noch einmal auf und sagt: «Dieter, hast du zu lange gefeiert geschtern, du töönscht so komisch?»
    «Wieso ich? Jakob, es geht doch jetzt nicht um mich, es

Weitere Kostenlose Bücher