Lieber einmal mehr als mehrmals weniger
kenne, aber ganz und gar kein typischer, wie er jetzt einmal mehr beweist: Als Schweizer national-telefoniert er im Ausland ins Ausland mit einem Auslandschweizer!
Wir starren uns durch die Fensterscheiben an, beide mit einer Hand am Ohr, mit der anderen einander zuwinkend. Akustisch sind wir miteinander verbunden, physisch getrennt wie zwei Fische in verschiedenen Aquarien.
«Jakob!», schreie ich, nervös am Fensterriegel hantierend. Drehen, rupfen, reißen, fluchen. Ich drehe an dem Riegel, rupfe dann daran, bis ich schließlich an ihm reiße. Er lässt sich einfach nicht öffnen. Ich fluche.
«Willscht du nicht herabkommen?», quäkt seine Telefonstimme in mein Ohr.
Ich deute ihm, er möge bleiben, wo er ist, ich würde jetzt den Blickkontakt abbrechen und mich vom Fenster lösen, um runterzukommen. «Du muscht nicht pantomimen, ich ghöre dich gut!», sagt Jakob.
«Bleib, ich komm, wart», kommentiere ich meine Gesten, die ich munter und überflüssigerweise weiterhin in die Luft zeichne.
«Ja, so mach’s doch nur ändli, Dieter!» Jakob lacht.
Ich schmeiße das Handy auf den Sessel und polterte über die Treppe nach unten. «Sooonja!», brülle ich. «Der Jakob! Jakob ist da, er ist daaa, Sonja. Sonja?»
Keine Freudenschreie meines holden Weibes, kein Ton, keine Spur von ihr. Egal, ich rase über den Hof, ums Haus herum, die Hunde, von meiner Hektik angesteckt, rennen bellend hinter mir her, an mir vorbei, mir voraus.
Hinter der gefängnistorartigen Metallkonstruktion, welche das Universum in zwei Bereiche teilt, nämlich in «unser Hof» und in «Rest-Welt», steht Jakob. Leibhaftig. Ein mittelgroßer, aber dennoch stattlicher Mann, dessen Haar schon etwas schütter geworden ist. Als Ausgleich ziert ein kurz gestutzter rotbrauner Bart sein markiges Gesicht mit der gesunden Farbe. Jakob schert sich nicht im Geringsten um das aktuell als korrekt geltende und sich laufend ändernde männliche Erscheinungsbild, er schert sich lieber den Bart. Und zwar so, wie es ihm zweckmäßig erscheint. Er trägt ein blau kariertes Flanellhemd, seine übliche naturgraue Wolljacke, dazu Jeans, die von einem breiten Gürtel gehalten werden. Seine Hände hat er in den Hosentaschen vergraben. Sein straffer Wohlstandsbauch, der jene von mir so geschätzte Jakob’sche Ausstrahlung heimeliger Geborgenheit und Sicherheit unterstreicht, wölbt sich, über leicht gegrätschten stämmigen Beinen, selbstbewusst gegen die Gitterstäbe des Tors.
«Jakob, das glaub ich ja nicht! Jakob, Himmelherrgott, du bist da, du bist hier, du Blitz-Donners-Cheib du … Warum hast du nicht geklingelt? So komm doch rein», stammele ich hektisch und versuche einen Torflügel zu öffnen.
«Ich meine, so als Überraschig war es doch vill luschtiger, weisch?» Jakob lacht über das ganze Gesicht wie ein Lausbub, dem der Streich seines Lebens gelungen ist. Er ist tatsächlich gelungen. Aber so was von.
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Begrüßungen
Jedes Land der Welt hat seine eigenen Begrüßungsrituale. Zum Beispiel Italien. Dort fallen sich Menschen, die sich länger als – sagen wir – zwei Wochen nicht gesehen haben, mit lautem
ciao bella
oder
ciao bello
um den Hals. Männer wie Frauen. Der Trieb, sich Gewissheit zu verschaffen, dass es sich nicht um eine Illusion handelt, dass der andere da ist, materiell und im Hier und Jetzt, erzwingt den ganzkörperlichen Kontakt. Gequetschte Brustkörbe und grün-blau geklopfte Rückenpartien werden gerne in Kauf genommen, um diesen Trieb auszuleben, der sich über alle Geschlechtergrenzen hinweg freie Bahn verschafft und selbst die berüchtigte Homophobie des südländischen Vollmannes zu überwinden imstande ist.
Frankreich. Hier wird ein ähnliches Begrüßungsritual zelebriert, allerdings in etwas abgeschwächter Form. Die Brustkörbe bleiben weitgehend intakt, und statt grün-blauer Flecken auf dem Rücken gelten durch intensives gegenseitiges Gerubbel entstandene Hautabschürfungen an den Oberarmen als körperliche Folgeerscheinungen einer ordentlichen Begrüßung. Und es wird geküsst bei den Franzosen, oh, là, là! Linke Wange, rechte Wange, nochmals linke Wange, nochmals rechte Wange, dann wieder linke Wange, und als Supplement gerne auch noch mal rechte Wange. Manchmal, ganz nach Belieben, zusätzlich Stirn und Frisur, selbst Ohren können nicht als kusssichere Zone gelten.
Je weiter nördlich man kommt, desto gesitteter wird das Ganze gehandhabt. Irland: Dort, hört man, sei selbst bei
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