Lieber einmal mehr als mehrmals weniger
Blutsbrüdern, deren Lebenswege durch die Wirren eines schweren Schicksals über zahllose Jahre hinweg getrennt worden waren, die einander vermissend, sich nacheinander sehnend, das Fehlen des anderen verfluchend, jeder für sich dieses Schicksal zu tragen hatte, und die jetzt, abermals durch die unbegreiflichen Ratschlüsse der Götter und entgegen allen denkbaren Wahrscheinlichkeitsrechnungen einander nunmehr doch wieder begegnen – selbst bei solchen von himmelhoch jauchzender Freude durchsättigten Begrüßungen sei, so hört man, in Irland nicht mehr zu erwarten als ein maximal drei Sekunden währender Händedruck und ein in tiefem Vibrato geäußertes «Jack», erwidert von einem «Hi, Jim». Allerdings wird diese scheinbare Zurückhaltung im weiteren Verlauf des Wiedersehens mehr als wettgemacht durch gemeinsames Austrinken etlicher, mit einem bräunlichen, durch Vergärung alkoholhaltigen Getreidesud gefüllter Flaschen. Am nächsten Morgen zeugen grün und blau geklopfte Körperstellen beliebiger Art und Anzahl, blutig geknutschte Wangen- und Halspartien sowie sehr schwere Köpfe von einem schlussendlich doch intensiven Begrüßungsritual.
Brandenburg. Die sogenannte Toskana Deutschlands liegt im Vergleich zu Irland relativ südlich, im Verhältnis zu Sizilien und der Côte d’Azur aber ziemlich weit nördlich. Hier – fast hätte ich schon gesagt: «bei uns», aber eben nur fast, weil sonst der kleine Schweizer in mir aufgestampft hätte –, also in Brandenburg, wird Berührung bei Begrüßungen eher vermieden. Ein kurzer Schlag auf die Schulter des anderen oder ein angedeuteter Boxhieb in dessen seitliche Weichteile muss als ausreichend gelten. Auch Worte werden nur sparsam verbraucht: «Na?» Bei Trennungen von mehr als einem Jahr gilt auch ein «Na, du?» eventuell als gerade noch im Rahmen des emotional Schicklichen. Andererseits ist es in Brandenburg, durchaus ähnlich zu Irland, üblich, die Wiederbegegnung in der ihr folgenden Nacht unter Zuhilfenahme von diversen enthemmend wirkenden Getränken zu intensivieren. Zunächst aber trennt man sich nach dem ersten Aufeinandertreffen relativ schnell wieder mit einem «Komm doch später ma rum, uff ’n Bier» und einem erwiderten «Jut». Bei diesem «später» hat dann jeder der beiden zwischen drei und dreizehn Kumpels im Schlepptau. Auf diese Weise kann quasi eine Gruppenbegrüßung stattfinden, und das
Zweier
-wir-sind-wieder-zusammen-Gefühl wird enorm gesteigert durch ein Wir-sind-wieder-zusammen-Gefühl. Zusammen als Bande. Die Freundschaftsbande, die alle großen deutschen Dichter besungen haben, sie werden in Brandenburg geknüpft, immer wieder gerne und immer wieder aufs Neue. Vielleicht ist der einzige stichhaltige Grund, warum der Brandenburger sich ab und zu vom anderen Brandenburger trennt, dass sie beim Wiedersehen fleißig geknüpft werden können, die Freundschaftsbande.
Die Schweiz. In der Schweiz ist die Sache, wie bei vielem anderen, etwas komplizierter als anderswo. Aus historisch gewachsenen Gründen muss der Schweizer, wenn er einen Schweizer trifft, vor allem, wenn sich die Begegnung im Ausland ereignet: erstens, sich wundern, dass der andere auch noch da ist, und zweitens: fluchen. [2]
Als unsere Eisenstäbekonstruktion, Gutmeinende nennen sie Hoftor, trotz eines erheblichen Glücks-Stress-Hormonschubs, der meine zittrigen Hände vom Modus «ungeschickt» in den Modus «unbeherrschbar» versetzte, endlich halbwegs offen steht und ich vor Jakob wie ein Kind vor dem Weihnachtsbaum, eröffne ich mit der Schweizer Begrüßung, dem klassischen: «Ja, was machst DU denn da?» und einem hinterdrein geschobenen: «Ich verrecke, hey!» Jakob jedoch erwidert nicht standardmäßig mit: «Huäre Siech, ich bin total verzwyflet uf dene Schwabe-Autobahne.» Er grinst stur weiter, lässt die Schweizer Begrüßung einfach weg und wechselt in die irische: «Dieter.» Er streckt seine Hand aus. Ich ergreife sie. Ein ruhiger und kräftiger Händedruck. «Hoi, Jakob», sage ich. Drei Sekunden versenken wir unsere Blicke ineinander. Dann lösen sich unsere Hände, und wir gehen mit leichtem gegenseitigen Klopfen und Rubbeln der Oberarme in die französische Variante über, die sich unvermeidbar in die italienische steigert. Nachdem unsere Rippen ordentlich geknackt haben und die Rücken mit guten Chancen auf farbliche Veränderungen ins Grün-Blaue ausgestattet sind, zerzausen wir einander die nachtgeplätteten Haare in windige
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