Lieber einmal mehr als mehrmals weniger
könnte.
«Ah, du bischt also im oberen Stock, hä», resümiert er. Scheinbar ist es ihm lediglich um die feststoffliche Daseins-Information gegangen.
Jakob gibt aber keine weitere Erklärung ab. Eine Ewigkeit warte ich auf die Lösung des Rätsels. Warum war es für ihn so wichtig, zu erfahren, wo genau ich mich in Bezug zum Universum befinde? Doch Jakob bleibt stumm. Ich habe schon Atem geholt, um vorsichtig nachzufragen, da sagt er: «Also, ich stehe da unten, weisch!»
«Aha», sage ich zaghaft.
«Du», macht Jakob plötzlich und interessiert sich überhaupt nicht mehr für das von ihm angerissene Thema. «Du, haben die dir die jetzt tatsächlich auch hingestellt, diese Windrädli?»
Der ist wirklich voll durch den Wind, der arme Jakob, denke ich im Stillen und antworte laut: «Ja, relativ, also, ja …»
«Wann haben die dir denn die da hingemacht?»
«Jakob, ich verstehe nicht ganz, was genau die Windräder jetzt mit meinen geographischen Koordinaten zu tun haben.»
«Ja, aber du müsstest sie doch von dort, wo du jetzt bischt, dütlich sehen! Schau mal aus deinem Dachfänschter, da hinten, hinter dem Wäldli, da sind doch jetzt so große Windrädli. Die sind doch neu, oder?»
Unwillkürlich spähe ich durch eines der Dachfenster zu den schlanken, riesenhaften Energiespendern, die im letzten Frühsommer sozusagen über Nacht aus dem Feld gewachsen waren und deren elegante Flügel sich jetzt gemächlich im auffrischenden Morgenwind zu drehen beginnen.
«Ja, aber woher weißt du denn, dass die uns da neue …»
«Ich hann’s eben nicht gerade nicht gewusst!», unterbrach er mich. «Ich bin doch ganz verwunderet, wenn ich sie da so sehe, von hier unten aus.»
«Von wo unten?»
«Ja, von hier unten, wo ich jetzt stande.» Jakob wird ungeduldig. «Ich stande ja unten, und du, wie du ja behauptisch, oben. Also müsstest du doch die Windrädli von deinem Oben noch viel deutlicher gseh, als ich von meinem Unten.»
«Also, Jakob», sage ich, jetzt mit ruhiger Stimme sehr langsam jedes einzelne Wort betonend, «einer von uns beiden ist verrückt.» Ich hole tief Luft und versuche es noch einmal: «Wo stehst du jetzt genau?»
«Ja … also … meinscht du jetzt so adrässenmäßig, oder was?»
«Ja.» Ich höre mich an wie ein Polizeipsychologe, der einen Verzweifelten vom Todessprung abhalten will «Ja, Jakob das wäre ein Schritt in die richtige Richtung, Jakob, das mit der Adresse.»
«Also», kleiner Stöhner von Jakob, «ich stande jetzt so ungefähr zwischen Huusnummer 19 und 20 . Und zwar am rechten Straßerand, wenn man vo Schmachthagen her kommt.»
«Aber Schmachthagen ist doch hier», sage ich noch – und dann fällt der entscheidende Groschen. Er schlägt ein wie ein Komet in der Wüste der Verdrängungen. Er durchschlägt Krusten des Vergessens und schleudert die Erinnerung empor, ins Licht des Bewusstseins, wo sie, wie ein Feuerwerk der Erkenntnis, den verhangenen Himmel der hürlimannlosen Trübsal in ein von bunten Blitzen wild durchzucktes Halleluja-Firmament verzaubert. Die hürlimannlose Zeit zerstiebt!
Als ob ich vom elektrischen Weidezaun eine gewischt bekommen hätte, hechte ich vom Dachfenster Richtung Fenster zum Hof, drücke meine Nase an der Scheibe platt, schiele schräg nach unten zur Dorfstraße – und sehe ihn! Sehe seine durch die Vogelperspektive optisch verkürzte kräftige Gestalt, den Kopf in den Nacken gelegt, ein lachender breiter Mund. An sein Ohr gepresst hält er ein «Natel», wie die Schweizer ihre Mobilfunktelefone nennen. Ich dachte lange, «Natel» sei ein gebräuchlicher Gruß in Gedenken an den Nationalhelden Wilhelm Tell: «Na, Tell?», bis ich darüber aufgeklärt wurde, dass das «Tel» in Natel nicht dem Willi gewidmet ist, sondern für «Tel»-efon steht. Na-tel =
Na
tional-
Tel
efon. Sie nennen es wirklich Nationaltelefon, die Schweizer, obschon man damit auch international telefonieren kann. Was aber für anständige Schweizer eher nur eine sehr theoretische Option ist: Warum soll man mit Ausländern im Ausland telefonieren, wo man doch mit sieben Millionen Schweizern im Inland telefonieren kann? Das werden ja wohl genug sein, oder? Und wenn einer ums Verrecken mit einem Ausländer reden will, hat’s ja weiß Gott auch im Inland genug von denen, oder? Und wenn es einen selber mal ins Ausland verschlagen hat, nutzt man das Natel ja auch nur, um nach Hause, in die
Na
tion zu
tel
efonieren. Jakob ist zwar der hochanständigste Schweizer, den ich
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