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Lieber einmal mehr als mehrmals weniger

Lieber einmal mehr als mehrmals weniger

Titel: Lieber einmal mehr als mehrmals weniger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Moor
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«Is besser zum Arbeiten, weißt du, ich hab da so ’ne Freundin, die macht das auch immer so» – und thronte auf dem Mitfahrerplätzchen, auf dem Kotflügel des Traktors. Plötzlich bemerkte ich, wie ein kleines Rudel Rehe links neben der Rollbahn aus dem Wäldchen auftauchte. Noch im Rollen schaltete ich den Motor aus und bremste ab. Etwa fünfzig Meter vor den Wildtieren kamen wir zum Stehen. Aufmerksam äugte das Wild zu uns herüber. Sie witterten, doch sie konnten uns nicht riechen, der Wind stand gegen uns. Und dann begann das erste Reh wieder zu grasen, dann das nächste und wieder eines, bis das ganze Rudel sich verhielt, als wäre es völlig unbeobachtet.
    «Das sind Rehe», informierte mich Alice leise flüsternd.
    «Was?», machte ich. «Rehe? Ah, sooo sehen die aus! Und ich dachte immer, das wären Hasen.»
    Alice knuffte mich in die Seite. «Blödmann.» Ich hielt den Zeigefinger an den Mund und grinste sie an. Wir guckten. Alice tippte aufgeregt auf meine Schulter und deutete: «Da, schau, da drüben links vor dem toten Baum: ein Junghase.» Tatsächlich, aus dem hohen Gras ragten die Ohren eines Rehkitzes, nur wenn es sich bewegte, konnte man auch seinen Rücken erahnen.
    «Das ist Bambi, Blödkind», flüsterte ich und kassierte wieder einen Knuffer.
    Wir sahen schweigend zu, wie das Rudel sich der Rollbahn näherte, an der Graskante stehen blieb und dann plötzlich, wie auf ein unhörbares Kommando hin, in eleganten, langgezogenen Sprüngen den Betonstreifen überquerte und sich nach rechts zum anderen Wald hin davonmachte. Die langen Grashalme bewegten sich im Wind in wellenförmiger Harmonie, und die darin auf und ab tanzenden schlanken Leiber der fliehenden Tiere erinnerten an braune Delfine in einem grünen Meer.
    Ich griff zum Zündschlüssel, um den Hürlimann wieder zum Leben zu erwecken, doch Alice hielt mich zurück. «Wart noch, bitte.»
    Ich wandte mich ihr zu.
    «Wir sind doch nicht im Stress, oder?», fragte sie.
    «Sind wir nicht, nö», gab ich ihr recht. Ich spürte, die Kleine hatte etwas auf dem Herzen, ihre Hand strich fahrig über das Schutzblech, sie holte Luft, als wolle sie ansetzen, etwas zu sagen, brach jedoch ab und blickte zum Wald, in dem die Rehe verschwunden waren. «Was gibt’s denn?», fragte ich vorsichtig. Keine Reaktion. Ich wartete.
    Schließlich drehte Alice ihren Kopf wieder in meine Richtung und sagte: «Wir müssen was besprechen, weißt du?»
    «Okay.»
    «Also. Ich möchte nämlich gern öfter herkommen, zu Sonja und dir, verstehst du?»
    «Das ist gut.»
    «Aber ich weiß eben nicht, wie gut.»
    «Sehr gut.»
    «Echt?»
    «Echt.»
    Alice blickte an sich herunter, knuffelte an ihrer Jeans herum. «Aber …»
    «Was aber?»
    «Aber wie weiß ich, ob es zu viel wird?»
    «Was?»
    «Na ja, dass ich da bin, und ihr müsst mich holen am Bahnhof und …»
    «Und?»
    «Na, weißt du, Erwachsene müssen ja nett sein zu Kindern, oder sie tun wenigstens so. Und wenn ich euch frage, ob ich kommen darf, müsst ihr doch auch nett sein, ihr seid ja wirklich nett, und dann sagt ihr ‹ja›, obwohl ihr vielleicht gern ‹nein› gesagt hättet.»
    «Hmmm», sagte ich, «das Problem kenn ich. Das hatte ich in der Schweiz andauernd. Ich wusste nie, ob der andere, was er so nett sagt, auch so nett meint, wie er es sagt. Das ist echt ein doofes Gefühl.»
    «Und was haste da gemacht?»
    «Ich bin weggegangen.»
    «Hierher», ergänzte Alice.
    «Ja, und hier lernte ich, dass alle alles einfach sagen, wie sie es meinen. Was sie doof finden, was sie gut finden, hier sagen alle, wie es ist. Wenigstens die meisten. Und die, die es nicht so sagen, wie sie es meinen: selber schuld. Die anderen nehmen es trotzdem so, wie es gesagt wurde. Das macht die Sache viel einfacher.»
    Alice dachte mit ernstem Gesichtsausdruck nach. Sie ließ sich Zeit. Ich mochte das sehr, das Nachdenken und Zeitlassen dieses Kindes. Schließlich kam sie zu einem Ergebnis: «Das ist gut. Das ist, glaube ich, in Berlin auch anders, aber so wie es hier ist, das gefällt mir. Dann machen wir das auch so, ab jetzt, ja?»
    «Sehr einverstanden. Du fängst an.»
    «Also», Alice blickte mich voll an und sagte fast feierlich: «Dieter, ich will oft kommen. Sehr, sehr oft sogar. Ohne Mama. Nur ich.»
    «Und ich werde es gut finden, wenn du oft kommst. Auch wenn du sehr, sehr oft kommst.»
    «Und wenn es doch mal nicht so gut ist?»
    «Dann sag ich: ‹Schön, dass du kommen willst, aber im Moment ist es gerade

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