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Lieber einmal mehr als mehrmals weniger

Lieber einmal mehr als mehrmals weniger

Titel: Lieber einmal mehr als mehrmals weniger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Moor
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dir nervt?»
    «Ja, du bist dran.»
    «Nix.»
    «Nix?»
    «Nö.»
    «Holla.»
    «Mhm.»
    «Ähm, dann … dann fahren wir jetzt, oder?»
    «Was ist mit Sonja?», fragte Alice. «Ist die auch einverstanden, wenn ich sehr oft komme?»
    «Frag sie.»
    «Mach ich. Jetzt kannste fahren, Dieter.»
     
    Und Alice machte es. Sie fragte auch Sonja, und die beiden trafen ihre Abmachung ebenfalls.
    Von da an wurde uns mit jedem Besuch von Alice deutlicher bewusst, welch unglaubliche Konsequenz und Beharrlichkeit dieses Kind an den Tag zu legen imstande war. Sie hat in all den Jahren seit damals die Vereinbarung kein einziges Mal vergessen oder gar gebrochen. Die Latte, die Alice legte, war verdammt hoch, und zwang uns, ihr gegenüber eine Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit walten zu lassen, die ihresgleichen sucht. Nichts konnte verdrängt oder verschoben werden, alles musste auf den Tisch. In der Folge hatte Alice auch einiges einzustecken, viele Tränen sind geflossen. Der Verzweiflung, der Trauer, aber auch der Freude. Ob Schulprobleme oder kleine Notlügen des Alltags, alles kam zur Sprache und wurde geklärt. Immer vor dem Hintergrund des Bekenntnisses zu Anfang. Alice war ein Musterbeispiel an Kritikfähigkeit. Sehr oft noch sollten wir von ihr den Satz hören: «Ich denke darüber nach und sag dann, was ich herausgefunden habe.» Und sie
dachte
nach und
sagte
, was sie herausgefunden hatte. Diese Gabe der Selbstreflexion, da konnten wir und so manch anderer Erwachsene sich ein mächtiges Stück abschneiden. Auch in der Umsetzung gewonnener Erkenntnisse war Alice fast beängstigend klar. Sie begann zu fragen, zu zweifeln, ihre Meinung zu überprüfen und auf diese Weise ihr Wissen immer mehr zu erweitern. Es war phantastisch, diesem staunenswerten Kind beim «Großwerden» zuzusehen.
    Bald war Alice vom Hof nicht mehr wegzudenken, sie gehörte einfach dazu, «zur Bande», wie Sonja gerne sagte. Und das nicht nur in Ferienzeiten. Es gab immer mal wiederkehrende Phasen, in denen Alice die Klarheit des Landes brauchte, um die Kompliziertheit und Unverbindlichkeit der Stadt zu verdauen. Und sie war bereit, einen nicht zu unterschätzenden Preis dafür zu bezahlen, nämlich um fünf Uhr morgens auf dem Hof aus den Federn zu müssen, damit sie mit Fahrrad und Öffies die Schule in Berlin rechtzeitig erreichte – und abends denselben langen Weg zurück. Dann Hausaufgaben machen, essen, schlafen. Eigentlich hatte sie fast nichts vom Land und dem Hof, dennoch: Sie schien entschieden zu haben, dass sie das jetzt brauchte, und sie zog das durch in einer Beharrlichkeit und Disziplin, wie sie uns mehr nicht hätte imponieren können. Und ab einem bestimmten, rückblickend nicht mehr näher zu verifizierenden Zeitpunkt fühlten wir, was wir geworden waren: Alices Adoptiveltern. Nur umgekehrt: Hier waren zwei Erwachsene adoptiert worden von einem Kind.

[zur Inhaltsübersicht]
    Lebensgefahr
    Ich stehe neben dem Truck auf der Weide und mache mir ernsthafte und berechtigte Sorgen um Leib und Leben derer, die sich im Inneren befinden. Den Geräuschen nach zu urteilen ist da drinnen die Hölle los. Entfesselte Urelemente, gewalttätiges Chaos: donnergleiches Rumpeln und Poltern, Brüllen von Kühen, Schreie von Menschen.
    «Heeeeiiii, heeeeiii, heeiiii. Uooooaaa Uoaaaaa Uooooaaaa.» Sonja.
    «Jetz gib ab Ruaaaaaaa, gib a Ruaaaaaa, Schatziliiiiiiiiiiiiii – aua!» Waldemar.
    «Da rüber, da rüber, ich komm so nicht ran … Vorsicht, sooo … jetzt, neiiiiin, nicht so, sooooo.» Tierarzt.
    Und das alles zeitgleich, in wilder Kakophonie.
    Ich halte das nicht aus, denke ich, das ist Wahnsinn, das geht so nicht, das ist Selbstmord. Und verfluche mich, dass ich nicht darauf bestanden habe, mit hineinzugehen. Oder, noch besser, Sonja schlichtweg zu verbieten, sich unverantwortlicherweise dieser Gefahr auszusetzen. Die
ist
aber auch stur, diese Frau! «Das sind meine Tiere, ich bin die Bäuerin, ich bin verantwortlich, ich geh da rein», hatte sie bestimmt. Und Waldemar, der sich inzwischen in einen knallgelben Overall gezwängt hatte – «Des mögen die Kühe, gell, Gelb lieben die, des wirkt so beruhigend» –, der gelbe Waldemar also, hatte Sonja auch noch Schützenhilfe gegeben: «Klar, so muas des sei, gell, die Sonja ist wie meine Mutter, die ist auch immer selber hingstand’n, wenn es gegolten hat, immer, gell!»
    «Aber wenn was passiert?», hatte ich protestiert, unter heftigen Solidaritätsbekundungen des kleinen Schweizers. Doch

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