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Lieber einmal mehr als mehrmals weniger

Lieber einmal mehr als mehrmals weniger

Titel: Lieber einmal mehr als mehrmals weniger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Moor
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Römernase.
    Spezialist für Greifvögel, Volierenverkäufer, Abt eines Flagellantenklosters in den Felsen der Mohabi-Wüste, ja, da wäre er richtig besetzt, denke ich, aber Großtierarzt? Ein Großtierarzt tritt mit einem zerschlissenen T-Shirt auf, an dem noch Strohgrannen hängen vom letzten Einsatz, und in von Kuhscheiße verschmierten Gummistiefeln. Dieser in hellblauem, frisch gestärktem Hemd samt stierblutroter Strickkrawatte und: Jackett! Seine Füße stecken in edel glänzenden stierblutroten italienischen Slippern, Marke «Italia». Mit schmucken Lederkördelchen. Das ist zu viel, das ertrage ich nicht, denke ich, in diesem Film muss die Kostümbildnerin sofort, aber sofort gefeuert werden, das geht nicht, das geht alles gar, gar, gar nicht. «Lauf doch einfach davon», rät mein kleiner Schweizer eindringlich. «Renn einfach weg, danach kneife dich kräftig und erwache! Sofort!»

[zur Inhaltsübersicht]
    Alice, das Kind
    Sie war die Freundin eines Freundes. Gemeinsam mit ihm hatte sie uns auf dem Hof besucht. Wir hatten einen schönen Sonntagnachmittag, waren über die Weiden gelaufen, hatten einen Drachen steigen lassen, unter dem Kirschbaum gegessen und getrunken und uns prächtig unterhalten. Als sie gegen Abend wieder gingen, fragte sie, ob sie noch mal kommen dürfe, mit ihrer Tochter. «Klar», sagten wir, «jederzeit!», und freuten uns, dass ein Stadtkind hier ein wenig Landluft schnuppern würde.
    Im Gegensatz zu vielen Städtern, die sich immer alles Mögliche vornehmen – «Ja, das machen wir jetzt aber, ganz, ganz sicher, nee ehrlich, das nehmen wir uns jetzt aber mal ganz fest vor, da fährt die Eisenbahn drüber, das ist gebongt, gefixt, das ist in trockenen Tüchern, ich meine es todernst, kannste Gift drauf nehmen, das müssen wir einfach, wär doch gelacht, wenn wir das nicht» –, und die es dann vor lauter Stadtstress nie wahr werden lassen können, sie kommen einfach nicht dazu, ach, man kann ja so
viel
tun in der Stadt mit all ihren
Möglichkeiten
und mit all den
vielen
guuuuten Freunden und Bekannten, und
immer
ist was los, und man kommt ja zu
nichts
– und die, wenn man sie dann wieder trifft, so ein Jahr später, das Vorhaben erneut erneuern, «nein also jetzt aber ganz sicher, wie peinlich, also diesmal aber …», und dann, natürlich, wieder nicht dazu kommen, weil es eben Städter sind …, also: Im Gegensatz zu vielen Städtern hat sie es angekündigt und dann tatsächlich einfach gemacht. Sie kam. Mit ihrer Tochter. Mit Alice.
    Alice war ein sehr dünnes Kind mit großen blauen Augen in einem bleichen, etwas spitzen Gesichtchen. Welches mal ganz, mal ein wenig, mal gar nicht erkennbar war, weil es mal ganz, mal ein wenig, mal gar nicht verdeckt wurde von Millionen hauchfeiner dunkelbrauner Haare, die immer irgendwie ineinander verwickelt zu sein schienen und sich den physikalischen Regeln der Schwerkraft, des Windes, der Kopfhaltung, wahrscheinlich auch und sogar des Magnetismus, der Sonnenaktivität, dem Elektrosmog und der Funkwellen-Intensität hingaben – oder eben zum Trotz auch nicht. Kurz, ihre Haare führten ein derart unberechenbares Eigenleben, dass es unmöglich gewesen wäre, auf diesem Kindskopf so etwas wie eine Frisur auch nur annähernd zu definieren. Es sei denn, man hätte alle zehn Sekunden neu definiert. Alice wirkte ein wenig wie ein Wesen von woanders. Und aus einer anderen Zeit. London, ausgehendes 19 . Jahrhundert, schien mir passend. Sie hätte gut in die kleinen Backsteinhäuschen der frühen Industrialisierung gepasst. Vielleicht kam es mir aber auch nur so vor, weil sie wahrhaftig Schnürstiefeletten trug und ein blassgeblümtes Kleidchen.
    Alice mochte bei diesem ersten Besuch so zehn oder elf gewesen sein, hatte aber eine neunmalkluge Schnauze, als ob sie erwachsener wäre, als jemals je ein Erwachsener nur werden kann. Alice war die Fachfrau für alles. Es gab nichts, wirklich nichts, was sie sich nicht schon in jahrelangen Studien und jahrzehntelanger Lebenserfahrung draufgepackt hätte. Ich führte sie in den Pferdestall, und sie erkannte sofort, diese Pferde müssen dringend zum Zahnarzt. Hat sie mal auf der Rennbahn in Hoppegarten gesehen, ist ganz wichtig bei Pferden: Zahnarzt.
    «Und der eine, da, wie heißt der? Aha, dem gehört mal der Schweif ordentlich durchgekämmt, da gibt’s so ’ne Paste, die massiert man ein, und dann verfilzen die Haare nicht mehr so.»
    «Und», fragte ich, «weißt du, wie die Paste

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