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Lieber Feind

Lieber Feind

Titel: Lieber Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Webster
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verarztet und sind mit der Nase in der Luft an meiner Bibliothek vorbeigestelzt, während ich mit Tee und einem Teller schottischer Weizenkuchen auf dem Dreifuß saß. Die Küchlein waren eigens als Friedensgabe für Sie bestellt.
    Wenn Sie wirklich gekränkt sind, werde ich das Kallikak-Buch lesen; aber ich muß Ihnen sagen, daß Sie mich zu Tode arbeiten. Es bedarf fast meiner ganzen Energie, damit ich eine erfolgreiche Vorsteherin bin, und diesen Universitäts-Nachhilfe-Kursus, den Sie eingeführt haben, finde ich sehr anstrengend.
    Sie erinnern sich, wie empört Sie letzte Woche einmal waren, als ich gestand, daß ich in der vorangegangenen Nacht bis ein Uhr auf war? Ich kann nur sagen, mein lieber Mann, daß ich jede Nacht bis zum Morgen aufsitzen würde, wenn ich all die vielfältige Lektüre bewältigen wollte, die Sie verlangen. Doch bringen Sie es nur mit. Ich kann meist eine halbe Stunde Ausruhen nach dem Essen einschalten, und obwohl ich gerne in den neuesten Roman von Wells geschaut hätte, werde ich mich statt dessen mit Ihrer schwachsinnigen Familie amüsieren. Das Leben ist neuerdings sehr schwer.
    Verbindlichst Ihre
    S. McB.

John-Grier-Heim,
    17. April.
    Lieber Gordon!
    Vielen Dank für die Tulpen, und desgleichen für die Maiglöckchen. Sie stehen meiner blauen persischen Schale ausgezeichnet.
    Hast Du je von den Kallikaks gehört? Hol Dir das Buch und lies es nach. Sie sind eine Familie mit zwei Zweigen, in Jersey, soviel ich weiß, obwohl ihr wirklicher Name und ihre Herkunft künstlich verschleiert sind. Aber jedenfalls — und das ist wahr — hat vor sechs Generationen ein junger Mann, der Martin Kallikak genannt wird, sich eines Nachts betrunken und ist vorübergehend mit einem schwachsinnigen Schankmädchen durchgebrannt, wobei er eine lange Linie schwachsinniger Kallikaks begründete — Betrunkene, Huren, Pferdediebe —, eine Plage für New Jersey und die umliegenden Staaten.
    Martin ist später auf den geraden Weg zurückgekehrt, hat eine normale Frau geheiratet und eine zweite Linie richtiger Kallikaks begründet — Richter, Arzte, Farmer, Professoren, Politiker —. Eine Ehre für ihr Land. Und jetzt existieren immer noch beide Linien und gedeihen Seite an Seite. Du siehst, was für ein Segen es für New Jersey gewesen wäre, wenn dem schwachsinnigen Schankmädchen in seiner Kindheit etwas Energisches zugestoßen wäre.
    Offenbar ist Schwachsinn eine leicht vererbliche Eigenschaft, und die Wissenschaft hat nichts dagegen tun können. Keine Operation ist erdacht worden, durch die man Gehirn in den Kopf eines Kindes bringt, das ohne Hirn geboren wurde. Also wächst das Kind auf, vielleicht mit einem neunjährigen Gehirn in einem dreißigjährigen Körper, und wird ein leichtes Werkzeug für jeden Verbrecher, dem es begegnet. Unsere Gefängnisse sind zu einem Drittel mit schwachsinnigen Sträflingen angefüllt. Die Gesellschaft sollte sie auf Farmen für Schwachsinnige absondern, wo sie ihren Lebensunterhalt mit friedlicher Handarbeit verdienen könnten und keine Kinder haben dürften. Dann könnten wir sie in ein bis zwei Generationen ausrotten.
    Hast Du das alles gewußt? Es ist für einen Politiker sehr wichtig, so was zu wissen. Bitte hole das Buch und lies es. Ich würde Dir mein Exemplar schicken, aber ich habe es ausgeliehen.
    Es ist auch für mich ein sehr notwendiges Wissen. Wir haben elf Kücken, die ich ein wenig in Verdacht habe, und bei Loretta Higgins bin ich sicher. Ich habe seit einem Monat versucht, ein oder zwei grundlegende Gedanken ins Gehirn dieses Kindes zu bringen, und jetzt weiß ich, was fehlt: ihr Kopf ist an Stelle von Hirn mit einer Art weicher käseartiger Masse angefüllt.
    Ich bin hierhergekommen, um die Anstalt in bezug auf Kleinigkeiten, wie frische Luft, Essen, Kleider, Sonnenschein, zu überholen, aber lieber Himmel! Du siehst, welchen Problemen ich gegenüberstehe. Ich muß zuerst die Gesellschaft überholen, damit sie mir keine anomalen Kinder schickt. Verzeih dieses ganze aufgeregte Gequassel. Ich bin eben gerade auf das Thema des Schwachsinns gestoßen, und es ist erschreckend — und interessant. Es ist Deine Sache als Gesetzgeber, Gesetze zu machen, die derartiges aus der Welt schaffen. Bitte besorge das sofort und verpflichte damit
    S. McBride
    Leiterin des John-Grier-Heims.

Freitag
    Lieber Mann der Wissenschaft!
    Sie sind beute nicht gekommen. Bitte übergehen Sie uns morgen nicht. Ich bin mit der Kallikak-Familie fertig und platze vor

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