Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
eine Menge berücksichtigen. Die Schauspieler reden nicht nur, sie müssen auch eine Menge tun. Es muss allein schon genug Erde auf der Bühne sein, damit sie ihren Garten Eden überhaupt anlegen können. So viel Erde nämlich, dass ein normaler Küchentisch unter ihr verschwinden kann. Gleichzeitig soll das Ganze aber auch nicht aussehen wie ein Gartencenter, schließlich spielt sich alles in einer Küche ab. Keine leichte Aufgabe, zumal bei den Problemen, die ich mit Bühnenbildern bisher hatte.
Um morgens rechtzeitig zur Bauprobe da zu sein, mussten wir einen Tag zuvor anreisen. Sonya aus München, ich aus Hamburg. Wir treffen uns am Bahnhof in Mainz, von dort fahren wir gemeinsam weiter. Schon während der Fahrt zur Pension rede ich ohne Pause auf Sonya ein. Sie hat bei Sein oder Nichtsein die Kostüme gemacht und alles mitbekommen. Mit ihrer höflichen und freundlichen Art macht sie mir Mut und tröstet meinen wankelmütigen Geist. Ich höre kaum zu, denn die Meise fängt an zu flattern, so dass ich ihre klugen Zwischentöne und Randbemerkungen gar nicht mehr wahrnehme. Wir haben jeder ein Einzelzimmer in einer kleinen Pension direkt neben dem Dom reserviert. Fachwerkhäuser überall. Das sind die mit den Holzbalken in der Fassade. Die Pension sah von außen ganz schön aus. Wandmalerei mit christlichen Motiven. So. Aber nun. Wir kommen rein. Es ist bereits später Nachmittag, und im Treppenhaus brennt eine viel zu schwache Lampe. Fast stolpern wir über einen Eimer Farbe, dessen halber Inhalt bereits an der Wand verteilt ist. Großbaustelle. Oben, im winzigen Flur an der Rezeption, herrscht große Leere. Das ganze Haus scheint wie in großer Panik verlassen. Wie im Krieg. Gibt es hier einen Bunker? Unter dem Dom? Oh. Tatsächlich steht nun ein verhuschtes Wesen vor uns und übergibt die Zimmerschlüssel. Die Zimmer sind geräumig, aber dreckig. Nur schnell den Koffer reinstellen und wieder raus.
Ich warte vor der Pension auf Sonya, die wie alle Frauen immer etwas länger braucht, und entdecke während dieser Viertelstunde drei Dinge in verschiedenen Schaufenstern, die ich unbedingt haben muss. Die Meise hat sich in eine Elster verwandelt und zaubert mir bei dem Anblick einer Jacke, eines Pullovers und einer Aktentasche Glitzer in die Augen. Es ist ganz klar. Es geht nicht anders. Die Sachen gehören zu mir. Sonya tritt auf die Straße und kann mich zumindest vom Kauf der Tasche aus Kalbsleder abhalten, die ein Vermögen kostet. Mit der Bomberjacke erfülle ich mir einen alten Traum. Ich mag das Uniformhafte daran und fühle mich unheimlich männlich. Stark. Unverwundbar. Und das, obwohl oder vielleicht gerade weil ich erst kürzlich meine Verwundbarkeit zu spüren bekommen habe. In diesem Moment ist alles wie weggeblasen.
Wir treffen die Dramaturgin und ihren Chef. Beide sind sehr nett und beklagen sich. Über die kulturelle Wüste hier. »Karneval können die besser.« Am frühen Abend sind wir in der Kantine mit Thierry verabredet. Er ist der ältere der beiden Schauspieler und hat mich dorthin bestellt. Er sitzt zwischen lauter Kolleginnen und mustert mich listig. Mir gefällt er sofort. Er sieht aus wie ein richtiges Theatertier. Ein Profi. Thierry kommt aus Luxemburg und schleppt uns nach einem Höflichkeitsgetränk in die Profikneipe der Stadt gleich um die Ecke. Köpi. Königs Pilsener. Etwas anderes gibt es nicht. Bier. Sonst nichts. Wir nehmen im Hinterzimmer Platz. Mit dem Schalter an unserem Tisch lässt sich die Bedienung heranklingeln. Wie wunderbar. Das heißt, wir müssen nie lange auf das nächste Bier warten und trinken für Stunden in einem ununterbrochenen Fluss. Profikneipe eben. Thierry redet von Haus aus viel und schnell, aber in mir hat er an diesem Abend seinen Meister gefunden. Wir freuen uns aufrichtig aneinander und über die kommende Arbeit miteinander. Die beiden Damen sind nur noch Beiwerk und in die Statistenrolle gedrängt. Am Ende sind wir glücklich betrunken. Ich habe seinen Regisseur-Eignungstest bestanden. Mit Bravour.
Am nächsten Morgen habe ich keinen Kater und hüpfe früh aus dem Bett. Ich klopfe bei Sonya, die noch nicht fertig ist. Sie komme gleich, sagt sie, und dass wir uns unten beim Frühstück treffen.
Der Speisesaal ist sehr hübsch, nur leider völlig verstaubt. Alles wirkt wie ein Heimatmuseum im Dornröschenschlaf. Eine Batterie Tupperdosen mit Inhalt bildet das Buffet. Die Käsescheiben schwitzen und wellen sich bereits. Hier kriege ich keinen Bissen
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