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Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise

Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise

Titel: Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Schloesser
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erklären. Vielleicht passiert einem Erwachsenen das öfter mal. Nur, dass das Gefühl nicht so stark ist. Vielmehr eine Schwärmerei. So, wie wenn Du früher aus dem Kindergarten gekommen bist und gesagt hast, später würdest Du Nele heiraten, und am nächsten Tag war es dann Emma. Normalerweise können Erwachsene ihre Gefühle kontrollieren. Zumindest meistens. Um andere nicht zu verletzen. Aber ich habe es einfach nicht hingekriegt. Wiebke hat mich magisch angezogen. Ich musste das ausleben. Zwanghaft.
    Ich war gefangen in diesem Gefühl, und gleichzeitig war das Leben so aufregend wie mit fünfzehn. Nur, dass ich mir wahnsinnig erfahren und weise vorkam, wie ein Großvater. Kann es denn ein schöneres Gefühl geben?
    Nein, mehr geht nicht.
    Ich kann nicht mehr.
    Morgen mehr.

ich bin ganz geschafft von gestern, und von der Schlaftablette merke ich immer noch etwas. Ich fühle mich betäubt. Wie nach einer Spritze beim Zahnarzt. Nur, dass das taube, pelzige Gefühl den ganzen Körper erfasst. Vor allem den Kopf.
    Wo war ich? Berlin?
    Berlin war großartig. In jeglicher Hinsicht. Ich hatte den Eindruck, die Stadt passe sich in Ausmaß und Form der Größe meiner Gedanken und Empfindungen an. Irene behauptete später, es sei genau andersherum gewesen. Berlin sei ein zu heißes Pflaster für mich. Diese wahnsinnig geraden, kilometerlangen Straßen mit ihren breiten Bürgersteigen. Immer genug Platz. Nie muss man jemandem ausweichen. Ein pulsierender Strom. Und ich mittendrin. Alles war sehr adäquat – solange ich das Gute, Wahre und Schöne aschenputtelartig vom abscheulichen Rest trennte.
    Ulf und ich wohnten die ersten drei Wochen in der Wohnung seiner Exfreundin in Moabit. Dort war so ziemlich alles unadäquat, aber gleichzeitig kam ich mir inmitten des Drecks, des Abschaums und der Verelendung vor wie ein strahlender Prinz. Wie eine Art Jedi-Ritter, der sich auf alles einlassen kann, wenn er will, wie ein Schamane, ein indianischer Wunderheiler, der den Unwissenden die Weisheit bringt, aber nur von den Wissenden verstanden wird. Von den Profis eben.
    Du und Mami, Ihr wart gefühlte Kontinente weit weg. Wir telefonierten wenig. Ab und zu kam eine euphorische SMS von mir. Mit dem Rest der Welt telefonierte ich umso mehr. Mit Freunden aus dem Theater. Kourosh und Phillip. Meine Erkenntnisse mussten schließlich mitgeteilt werden. Die Freunde waren anfangs gar nicht misstrauisch, weil ich lange Zeit niedergeschlagen und voller Zweifel gewesen war. Nun ging es endlich wieder aufwärts, die Tage flogen dahin und waren doch so lang und ereignisreich, wie sie nur im Sommer sein können. Eine längere Probe am Vormittag. Schwimmen im Schlachtensee. Joggen im Grunewald. Kochen in Steglitz, Essen gehen in Kreuzberg. Aber vor allem sitzen, trinken, reden. Überall war etwas los. Sommer eben. Berlin eben. Mitte. Prenzlberg. Mitte. Kreuzberg. Mitte. Das waren unsere Stadtteile. Kiez sagt der Berliner. Ich redete nicht mehr nur, ich hielt Monologe und verlor immer mehr die Fähigkeit zuzuhören. Ich berauschte mich an meinen eigenen Gedanken. Dazu kam ein Gefühl von Unverwundbarkeit und Größe – ich kannte keine Zweifel mehr. Schamlosigkeit würde es wohl eher treffen. Ich konnte gigantische Mengen Alkohol trinken und hatte nie das Gefühl, besoffen zu sein. Wie auf Drogen. Dachte ich.
    Wir gingen zum Benefizkonzert Menschen in Afrika , oder so ähnlich. Oder Deine Stimme gegen Armut . Der Anlass war mir vollkommen egal. Menschen in Afrika waren mir vollkommen egal. In Berlin feiern sich sowieso alle nur selbst. Vor allem die Künstler. Eine gigantische Heuchelei unter dem Deckmäntelchen der Betroffenheit. Gutmeinen ist gefährlich. Aber für mich war sowieso nur wichtig, während des Konzerts in den abgesperrten Bereich für die Ehrengäste von AOL gelassen zu werden. Die Internetfirma hatte viel Geld investiert, um ihren Ruf aufzupolieren. Wiebke kannte zum Glück jemanden, und so erhielten wir das begehrte Plastikarmband und einen unglaublich adäquaten Platz. Fünfzehn Meter zur Hauptbühne, ganz entspannt, mit viel Platz zur Entfaltung. Fünfhunderttausend Amateure hinter uns. Das Spektakel vor der Nase. Was für ein Gefühl! Ich kam mir vor wie ein König in seiner Loge. Abgetrennt vom Volk. Ha! Ich war der König von Berlin.
    Der einzige Auftritt, der mich wirklich berührte, war der von Brian Wilson. Er hatte vor langer, langer Zeit mal eine Band. Die Beach Boys. Die Strandjungs waren sehr erfolgreich, als Deine

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