Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
Miene.
»Was war denn da los?«
»Erzähle ich dir in Hamburg.«
In der Ecke stehen meine Eltern und sind stolz. Ich kann mich gar nicht richtig freuen, dass sie da sind. Flüstere, während sie mich immer wieder umarmen und anlachen. Kourosh ist auch da. Was für ein Geschenk. Wir gehen sehr früh, und ich erzähle ihm noch die ganze Nacht von den Tücken dieser Produktion. Seine Anwesenheit ist wie Balsam für meine gequälte Seele.
Am nächsten Tag will ich nur noch weg. Raus aus dieser scheußlichen Stadt.
Vor meiner Haustür steht plötzlich ein großer Inder, als ob er auf mich gewartet hätte . We Yogi people, we pray for you . Wir Yoga-Leute beten für dich. Ich bin vollkommen willenlos und werde, wie König John in Disneys Robin Hood von Sir Hiss durch die Straßen geführt.
Als er mich bittet, mit ihm zum Geldautomaten zu gehen und hundert Euro für ihn abzuheben, widerspreche ich nicht. Zum Abschied gibt er mir einen kleinen schwarzen Stein. Ich solle ihn in mein Portemonnaie stecken und würde fortan immer genug Geld haben. Weg ist er. Wie ein letzter Traum.
Das war Frankfurt.
Wolfgang hat mich gerade gefragt, ob ich mit ihm spazieren gehe.
Das ist jetzt genau das Richtige.
Bis später.
ich habe Wolfgang von den Briefen erzählt und dass es mir manchmal sehr schwerfällt, weil mir Dinge klarwerden. Er hat mir Mut gemacht.
Weiter geht’s.
Als ich aus Frankfurt nach Hause kam, war ich unendlich erschöpft und wollte fortan nur mehr im Hamburger Schauspielhaus arbeiten, so verletzt, enttäuscht und wütend war ich. Dein Anblick war mir der einzige Trost.
Dennoch konnte ich keine Ruhe finden. Weißt Du, was Schmach bedeutet? Das Gegenteil von Erfolg. Demütigung. Ehrverlust. Ich musste das wiedergutmachen.
Ich wollte um jeden Preis wieder Erfolg haben. Dieses Gefühl der Leichtigkeit. Fliegen. Stattdessen fing ich an zu schwimmen. Und zwar wie ein Ertrinkender.
Aus dem jungen hochbegabten Nachwuchsregisseur, den viele an ihrem Theater haben wollten, war in meiner Selbsteinschätzung ein überschätzter Tölpel geworden. Große Klappe. Nichts dahinter. Keiner spielt mehr mit mir.
Das ist grausam. Aber das Schlimmste ist, dass man meistens selbst schuld daran ist. Das konnte ich damals aber nicht zugeben. Stattdessen habe ich mich mit meinen Freunden und Kollegen aus dem Schauspielhaus zum Trinken getroffen. Dann haben wir gemeinsam geschimpft. Über die Amateure. Die auch noch Erfolg hatten mit ihrem Unsinn. Unerträglich. Traurig. Nächtelang. Manchmal haben wir auch geträumt. Von den Stücken, die wir gemeinsam aufführen wollten. Müssten. So ist ein großes Missverständnis geboren worden. In der Kantine um halb drei Uhr morgens. Die Bedienung war schon mit dem Kopf auf dem Tresen eingeschlafen. Sein oder Nichtsein . Ein Stück auf der großen Bühne im Schauspielhaus. Pah. Endlich. Heimspiel, habe ich gedacht. Ist doch mein Wohnzimmer. Da geht alles wie von selbst. Da fliegt mir alles zu.
Tatsächlich war mir die Meise schon zugeflogen und hatte sich in meinem Kopf eingenistet. Sie hat dazu geführt, dass ich alle, wirklich alle, ob nun die Schauspieler, den Bühnenbildner oder die Assistenten, in den Wahnsinn getrieben habe. Das ist normalerweise ganz gut im Theater. Wenn alle durchdrehen. Weil es dann echt wird und nicht aussieht wie vorgeführt und ausgedacht. Als ob. So war es aber nicht. Wochenlang haben sie mich angeguckt und gefragt, wie dies und wie jenes denn nun sein sollte? Das Stück hieß wirklich Sein oder Nichtsein . Aber es ist nicht bloß ein Stücktitel, sondern gleichzeitig der bekannteste Satz aus einem anderen Theaterstück. Es heißt Hamlet und wurde von einem englischen Schriftsteller namens Shakespeare geschrieben. Es erzählt die Geschichte eines jungen Prinzen, der dem Hof vorspielt, er sei wahnsinnig. Er tut das, weil er glaubt, nur so den Mord an seinem Vater aufklären zu können. Aber immer wieder zweifelt er auch daran, ob sein Handeln richtig ist. »Sein oder Nichtsein. Das ist hier die Frage.« Er überlegt schließlich sogar, ob er sich selbst töten soll.
Und jetzt wird es ein bisschen kompliziert. Es gibt nämlich auch einen Film mit diesem Titel, und genau den wollten wir auf die Bühne bringen. O Mann, wie soll ich Dir bloß den Inhalt erklären? Da geht das Problem schon los. Ich habe eben versucht, Wolfgang die ganze Sache zu erklären, aber der hat es auch nicht richtig verstanden. Also: In dem Film Sein oder Nichtsein von Ernst Lubitsch geht
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