Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
es um eine Truppe von polnischen Schauspielern kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Und der begann ja damit, dass die Deutschen in Polen einmarschiert sind und das Land besetzt haben. Im Theater proben die Schauspieler ein kritisches Stück, das sich gegen die Nazis und Hitler richtet. Aus Angst vor den Deutschen wird es jedoch kurz vor der Premiere von der polnischen Regierung verboten. Stattdessen wird Hamlet gespielt. Dabei kommt es wiederholt zu einem Zwischenfall. Immer, wenn der Hauptdarsteller Joseph Tura zu dem berühmten Monolog ansetzt, steht im Publikum bei dem Satz »Sein oder Nichtsein« ein junger Mann auf und verlässt den Saal. Der Schauspieler fühlt sich in seiner Künstlerseele gekränkt. Was er nicht weiß: Es handelt sich um einen Verehrer seiner Ehefrau Maria, die ebenfalls im Stück mitspielt, und den jungen Mann während der langen Textpassage ihres Gatten in ihrer Garderobe empfängt.
Unter der Besetzung der Deutschen wird das Theater geschlossen. Das Ensemble ist entsprechend niedergeschlagen. Doch dann erfährt es von der Ankunft eines Spions, der den Deutschen eine Liste mit den Namen polnischer Widerstandskämpfer übergeben soll. Das Treffen soll in einem Hotel in Warschau stattfinden. Damit die Liste nicht in falsche Hände gerät, schlüpfen die Schauspieler kurzerhand in neue Rollen und geben sich als Deutsche aus.
Das Stück ist bitterböse und gleichzeitig sehr lustig. Aber fast unmöglich zu inszenieren, weil alle Gesetze außer Kraft gesetzt sind. Oben/unten. Gut/böse. Komödie/Tragödie. Leben/Tod. Es erfordert ein Höchstmaß an Konzentration und Erfahrung. Von beidem hatte ich viel zu wenig. Hinzu kommt, dass den Film jeder im Theater kennt. Und jeder hat natürlich eine ganz bestimmte Vorstellung davon, wie so etwas umgesetzt werden soll. Wenn man es denn überhaupt wagen darf, den Film auf die Bühne zu bringen. Das Werk von Herrn Lubitsch stand vor mir wie ein Ungeheuer. Das hätte mich normalerweise angestachelt, aber diesmal hatte ich vor den Proben richtig Angst.
Wir hatten den ganzen Sommer mit Dir auf dem Land verbracht. Ganz ruhig und romantisch. In Wehningen direkt an der Elbe. Ein Traum. Viel Schlaf. Wenig Alkohol. Viel Matz. Rund um die Uhr. Doch mit der Entspannung kamen auch immer mehr Zweifel, ob ich es schaffen würde. Ich habe mich wahnsinnig unter Druck gesetzt. Das kennst Du auch. Bei Dir verspannt sich dann der Nacken, und Du bekommst Kopfschmerzen. Bei mir geht es in den Magen und in den Rücken. Im Bauch stiftet die Angst Unruhe, und auf dem Rücken drückt die Last.
Schon bei der Leseprobe habe ich innerlich geschlottert. Zu Recht. Denn ich hatte mich kaum vorbereitet. An dem Gefühl der Verunsicherung hätte eine gewissenhaftere Vorbereitung vermutlich auch nichts geändert. Zu stark war die Angst. Viel Zeit mit dem Bühnenbildner vor dem Modell hatte ich auch nicht, da er nebenbei noch ein anderes Stück ausstattete. Alles vollkommen fahrlässig. Ich hatte die Arbeit unter-und mich überschätzt. Aber nun war es zu spät. Dabei waren alle dabei. Alle meine Lieblinge. Die Angst wollte nicht weichen und breitete sich vom Bauch ins Hirn aus. Wochenlang ging das so. Die Tage waren eine einzige Qual, sie wollten einfach nicht enden. Wann kann ich endlich nach Hause?
Die Stimmung ist längst gekippt. Lauter Fragezeichen um mich herum. Ich renne von der langen und ergebnisfreien Probe zur Krisensitzung und zur nächsten regungslosen Abendprobe. Ich liege nachts wach, kann stundenlang nicht einschlafen. In meinem Kopf rast alles. Weg von hier. Weg von all den aufgebrachten, drängenden Menschen. Mein schlechtes Gewissen lässt die Angst nicht abschwellen. Es geht immer noch schlimmer. Ich stehe regungslos auf der Probebühne und weiß nichts mehr. Gar nichts. »Was ist los im Staate Dänemark?«
Gute Frage. Heute weiß ich, dass mir meine Gegner nicht im Theater aufgelauert haben, sondern in meinem Kopf. Ich habe den Kampf gegen die Meise verloren. Nur: Wie soll man gegen einen Gegner gewinnen, von dem man nicht weiß, dass er da ist? Ich war ein Geist geworden. So wie Hamlets Vater. Ein Schatten. Und das in meinem zweiten Wohnzimmer! In meinem Haus! Vor Scham bin ich fast gestorben. Wäre ich gern gestorben.
Zwei Dinge machen mich extra fertig. Die Talentlosigkeit des einzigen Schauspielers, den ich mir nicht selbst ausgesucht habe, und das Bühnenbild, das mich von Anfang an blockiert. Es handelt sich um ein Karussell aus Zimmern und steht
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