Lieber Osama
Nachher kommt jemand vorbei, der Ihnen ein paar Fragen stellt, aber jetzt ruhen Sie sich erst mal aus.
- Aber ich muss es wissen. Ich muss wissen, wo sie sind.
- Entspannen Sie sich. Ich schicke Ihnen jemanden vorbei. Darauf fing ich an zu schreien. Ich schrie die ganze Station zusammen, und die Krankenschwester sauste los, um den Arzt zu holen, der mir eine Spritze gab. Das war nett, und ich dämmerte sofort wieder weg.
Als ich aufwachte, waren wir einen Tag weiter, und die Sonne schien durch die Fenster. Nur hätte die mal jemand putzen können. Im Bett gegenüber lag eine TAPFERE FUSSBALL-OMA, 82. Sie hatte im Stadion beide Augen verloren und sang krächzend und ohne Ende: 1 ZU 0 FÜR ARSENAL. Und im Hintergrund lief das Radio. 966 Tote, sagte es. Sie nannten es die Katastrophe. Aber wie man das Ding nennen sollte, das du in die Luft gejagt hast, darüber konnte man sich bei der BBC offenbar tagelang nicht einigen. Erst hieß es das Emirates Stadium, dann Ashburton Grove oder Gunners Park, schließlich gaben sie es auf und nannten es alle bloß noch den 1. Mai. Jeder tat das. Als hättest du nicht bloß ein Stadion gesprengt, sondern ein Loch in unseren Kalender.
Und ich fühlte mich, als wäre ich durch dieses Loch gefallen. Unter dem summenden Neonlicht hatten Tag und Nacht komplett ihre Bedeutung verloren. Ich lag ganz hinten im Krankensaal, am weitesten vom Fenster weg, umgeben von grünem Linoleum, Neonröhren und dem Gestank von Desinfektionsmittel. Ich konnte die Tage nicht zählen, nur die Zahl der Toten. ZAHL DER ANSCHLAGSOPFER STEIGT AUF 966, sagten sie im Radio. MEHRERE DUTZEND MENSCHEN WERDEN NOCH VERMISST ODER BEFINDEN SICH IN KRITISCHEM ZUSTAND. Die Krankenschwester brachte mir eine schöne Tasse Tee.
Hat dir einer deiner Männer auch Tee gebracht, Osama? Vielleicht in einem von diesen kleinen Gläsern? Hast du ihm in die Augen gesehen und dich dabei gefragt, ob du ihm trauen kannst? Ich schätze, das fragst du dich die ganze Zeit, oder? 966 tote Arsenal-Fans sind keine Kleinigkeit, da könnte noch was auf dich zukommen. Und? Hast du den Mann angesehen und den Tee getrunken? Bist du dann rausgegangen in die Sonne, wo es nach Ziegenscheiße und wildem Thymian roch? Hast du das Radio eingeschaltet und die neuste Opferzahl gehört, 966? Hast du dich nach Osten gedreht? Hast du deinen Gebetsteppich ausgerollt und bist niedergekniet, um zu beten? Ich jedenfalls habe an diesem Morgen gebetet, Osama. Vielleicht haben wir sogar um ein und dasselbe gebetet. Nämlich dass die Zahl der Toten auf 967 steigt. Gott vergib mir, aber ich habe gebetet, dass die TAPFERE FUSSBALL-OMA, 82, die von gegenüber, endlich stirbt und mich mit ihren Schlachtgesängen verschont.
Ich hakte die Tage ab, indem ich kleine Striche in das Bettgitter ritzte, so wie sie das in Filmen immer machen. Ein neuer Tag war immer, wenn die Krankenschwester kam, um mir meine Beruhigungsmittel zu geben, obwohl ich ja mittlerweile glaube, sie kam zweimal am Tag. Also war es entweder Tag 16 nach dem Anschlag oder Tag 8, als die Zahl der Toten bei 1000 ankam. Ich glaube, die ganze Nation hoffte insgeheim, dass man die 1000 schaffte. Es war fast wie ein Trost. Es fühlte sich an, als hätten wir endlich ein Ziel erreicht, auf das wir die ganze Zeit zugesteuert waren.
Ich jedenfalls muss mir das sehr gewünscht haben, denn es war die singende Fußball-Oma, die die 1000 voll machte. Eines Morgen wachte ich auf, und es war so seltsam still, dass ich mich aufsetzte und nach dem Bett gegenüber sah. Mir war sofort klar, dass sie tot war. Der Verband war ihr von den Augen gerutscht. Aber dort, wo ihre Augen gewesen waren, klafften nur 2 mit blutigem Verbandsmull abgedeckte Löcher. Das arme Muttchen sah aus wie eine schmutzige alte Puppe, der das Füllmaterial rausquoll. Ich dachte nur: JETZT IST SCHLUSS MIT DER SINGEREI. Und fing laut an zu lachen, weil es so komisch war. Darauf kam gleich der Arzt gerannt. Er leuchtete mir mit einer kleinen Taschenlampe in die Augen, und plötzlich war ich wieder auf dem Spielfeld, wo von oben die Flutlichter durch den Qualm schienen. Ich fing wieder an zu schreien, und der Arzt gab mir wieder eine Spritze.
Als ich aufwachte, war das Radio bei 1003 Toten, und sie spielten ein Lied, das Sir Elton John extra dafür komponiert hatte, ENGLAND’S HEART IS BLEEDING, ein Lied, das wahrscheinlich für alle Ewigkeit auf Platz 1 stehen würde oder zumindest bis für Sonne, Mond und Sterne das Haltbarkeitsdatum abgelaufen
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