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Lieber Osama

Lieber Osama

Titel: Lieber Osama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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war. Also lieber heute als morgen, wenn man mich fragte. Aber es fragte mich keiner.
    Die Opferzahl blieb bei 1003 stehen, und erste Untersuchungsergebnisse wurden bekannt gegeben. Jeden Morgen hörte ich BBC. Man ging von 11 Selbstmordattentätern aus. Keine Ahnung, ob das deine Absicht war, aber es ist sozusagen eine komplette Mannschaft. Allerdings wusste niemand, warum du sie ausgerechnet zu Arsenal-Fans gemacht hast. Hasst Allah die Gunners noch mehr als den Westen im Allgemeinen, oder war es bloß Zufall? Vielleicht hast du ja auch eine Münze geworfen, so wie der Schiedsrichter, wenn um den Anstoß gelost wird.
    Angeblich haben 11 deiner Männer die Bomben unter ihrem Arsenal-Trikot ins Stadion geschmuggelt. Alle hatten sie eine Jahreskarte für die Osttribüne. Als van Persievolley auf das Chelsea-Tor abzog, sprang alles auf der Osttribüne hoch. Die echten Arsenal-Fans riefen JAAAA!, nur deine Männer riefen ALLAH AKBAR. Die Polizei hat Bild für Bild die Überwachungsvideos ausgewertet und konnte es von ihren Lippen ablesen.
    Dann zündeten deine Männer die Bomben. 6 von ihnen trugen Splitterbomben am Leib, die restlichen 5 Brandbomben. Nach Meinung der Experten war so was noch nie zuvor gemacht worden, es seien überhaupt die schrecklichsten Selbstmordbomben in der Geschichte der Menschheit gewesen. Zwar müssen die Bombenpakete unter den Arsenal-Trikots riesig gewesen sein, aber offenbar hat niemand was gesagt, außer vielleicht: Boah, guck dir mal den Fettsack an. Bierbäuche gibt’s nämlich bei den Arsenal-Fans die Menge. Jetzt vielleicht nicht mehr ganz so viele.
    Angeblich wurden 200 Leute sofort von den Splitterbomben zerfetzt. Ich hoffe nur, mein Mann und mein Junge waren darunter. Komisch, wie man das sagt, nicht wahr, Osama? Wenn ich daran denke, wie wir als Kinder im East End unsere Puppen in kleinen Puppenkinderwagen herumgefahren haben, da spielten wir doch auch nicht Von-Bomben-zerfetzt-werden. So was kam in unserer Welt gar nicht vor. Aber heute ist das anders. Heute hoffe ich, meine Männer sind sofort gestorben. In der einen Sekunde noch JAAAA! – und schon in der nächsten denken sie an gar nichts mehr. Denn die ersten 200 mussten nicht leiden. Die anderen 803 hatten es viel schwerer.
    Jeder, der nach der ersten Explosion noch laufen konnte, rannte los. Eine regelrechte Stampede. Die Menschen rannten in alle Richtungen. Sogar die, denen kleinere Körperteile fehlten wie Nasen, Hände und was weiß ich. Überall im Umkreis regnete es Phosphor. Sitze fingen Feuer, dann ganze Ränge. Und auch die Kleidung, die Haut und das Fett derer, die am Boden lagen. Das reinste Inferno. Man schätzt, dass etwa 500 Menschen erdrückt oder verbrannt wurden, als das Feuer auf die Osttribüne niederregnete. Blieben noch 300, die später sterben sollten.
    In der Notaufnahme der Krankenhäuser musste man sich Gummischuhe aus dem OP leihen, sobald die ersten Rettungswagen eintrafen. Darin nämlich stand das Blut zentimeterhoch. Und was dort auf der Trage lag, war zum Teil völlig undefinierbar.
    Nur zwei Menschen starben nicht im Stadion selbst oder auf der Flucht nach draußen. Aber ganz in der Nähe entdeckte man diese beiden Chelsea-Fans, die von einer der großen alten viktorianischen Laternen hingen, mit einem Stromkabel um den Hals. Du musst sie auch gesehen haben, das Bild war in allen Zeitungen, wie sie da ganz friedlich in ihren blauen Trikots vor dem blauen Himmel baumelten, als sich der Rauch mal verzogen hatte. Sie hingen bis zum Abend dieses sonnigen 1. Mai dort, denn man musste erst die aufgegebenen Autos abschleppen, ehe genug Platz für die Hebebühne war. Und während sie auf die Hebebühne warteten, musste ein Scharfschütze der Polizei die Möwen abknallen, die den Toten die Augen auspicken wollten. Niemand hat je rausgefunden, wer diese Männer da oben aufgeknüpft hatte.

 
    E S DAUERTE MEHRERE W OCHEN , bis wieder was anderes im Radio lief als der 1. Mai. Aber als dann die normalen Sendungen zurückkamen, waren sie nicht mehr normal. Jeden Tag lief zum Beispiel diese Endlosserie Die Archers, und selbst da war der 1. Mai Thema. Es ist komisch, Osama, aber dass der 1. Mai eine Realität war, wurde mir erst klar, als Eddy Grundie aus den Archers darüber lamentierte.
    Bis dahin waren all diejenigen, die sterben sollten, tot, und für die anderen wurde es Zeit, wieder gesund zu werden. Bei mir waren Knie und Hand gebrochen, aber die Ärzte sagten, ich müsste wegen meiner inneren

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