Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lieber Osama

Lieber Osama

Titel: Lieber Osama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
Vom Netzwerk:
mich eine halbe Ewigkeit an, ohne noch was zu sagen. Vor uns donnerte der Verkehr vorbei. Sie hatte eine dieser kleinen Brillen mit dicken Gläsern, hinter denen ihre Augen aussahen wie billige Bonbons.
    - Aber zu Scotland Yard müssen Sie den 705er nehmen. Fahren Sie bis kurz hinter Waterloo Station, dann am besten zu Fuß über die Westminster Bridge. Ich glaube, zu Scotland Yard geht es über die Victoria Street.
    Danach sagte sie nichts mehr. Wir warteten auf den 705er, und als er kam, setzte ich mich gleich vorne hin, und die Oma stieg aufs Oberdeck. Und das trotz ihres Alters und obwohl unten jede Menge freie Sitze waren. Ich weinte wieder ein Ründchen und steckte meine Hand in die Tüte, wo ich heimlich Mr. Rabbit streicheln konnte, während draußen die Stadt vorbeizog, die wieder mal unheimlich viel zu tun hatte. Ich stieg zu früh aus, wie immer, wenn man eine neue Strecke fährt. Ich stieg an der Waterloo Station aus, obwohl ich noch ein paar Haltestellen hätten fahren können. Aber dort geschah es. Ich stieg gerade aus, ziemlich wacklig auf meiner Krücke, und plötzlich sah ich meinen Jungen.
    Mein Junge hielt die Hand einer anderen Frau. Die Frau zog ihn in einen Zeitungsladen. Es war ganz klar mein Junge. Es war sein schönes rötliches Haar und sein freches Lächeln. Er zeigte auf etwas im Schaufenster, etwas, das er wohl unbedingt haben wollte. Wahrscheinlich eine Tüte Skips. Skips hat er immer gemocht. Ich meine, alle Kinder lieben Skips, ist doch so, Osama? Sie zergehen so kribblig im Mund, fast wie Brause. Mit einem Schlag war die Leere in mir verschwunden. Offenbar hatten sie sich vertan. Mein Junge lebte noch. Es war ja so wunderbar.
    Auf meiner Krücke ging ich direkt über die Straße. Fast hätte mich ein Taxi überfahren. Der Fahrer stieg in die Eisen und rief: Blöde Fotze. Mir war das aber scheißegal. Ich ging in den Zeitungsladen und sah auch sofort meinen Sohn. Er drehte mir den Rücken zu. Er war allein und schaute in den Getränkekühlschrank. Die Frau stand an der Ladentheke und bezahlte gerade ihre Ziggen. Ich ging auf meinen Jungen zu, ließ die Krücke fallen und die Tüte. Ich drehte meinen Jungen um und küsste sein Gesicht. Ich hob ihn hoch, drückte ihn fest und vergrub mein Gesicht in seinem Nacken.
    - Ach, mein tapferer Junge, mein lieber Junge.
    Aber mein Junge schrie und trat mich mit den Füßen. Er roch auch nicht richtig, aber das war weiter nichts Ungewöhnliches. Wahrscheinlich hatte die Frau ihn nicht richtig ernährt. Mein Sohn ist nämlich ziemlich wählerisch, weißt du, immer schon. Vor allem bei Gemüse muss man echt aufpassen, sonst rührt er es nicht an. Aber das sagte ich schon, oder?
    -Ach, du Ärmster. Aber jetzt ist die Mami wieder da und lässt dich nie wieder allein. Ich wette, dir fehlt Mr. Rabbit. Er vermisst dich nämlich auch ganz doll. Wir sind extra hergekommen, um dich zu holen, ich und Mr. Rabbit. Und auf dem Weg hierhin hatten wir ein richtiges Abenteuer. Wir haben den 705er genommen!
    Von da an lief irgendwie alles daneben. Mein Junge riss sich von mir los. Gerade noch war er auf meinem Arm, und einen Augenblick später hielt ihn diese Frau. Sie brüllte mich an, kriegte sich gar nicht mehr ein. Mein Junge heulte auch. Beide waren sie knallrot und schrien.
    - Gib meinen Jungen wieder her.
    - Dein Junge? Das ist nicht dein Junge. Lass deine Pfoten von meinem Kind, du beklopptes Stück.
    - Los, rück das Kind raus. Gib es her.
    - Aber das ist meins. Hast du keine Augen im Kopf? Guck ihn doch an, verdammt nochmal. Guck ihn doch an.
    Der Junge schluchzte. Die Frau hielt ihn mir direkt vors Gesicht und schüttelte ihn, als könnte ich ihn nur so genau angucken.
    - Siehst du?, sagte sie. Das ist meiner. Stimmt doch, Conan? Der Rotz lief Conan übers Gesicht. Seine Nase stimmte nicht, und seine Augen hatten auch die falsche Farbe. Plötzlich war es überhaupt nicht mehr mein Junge. Plötzlich sah er ihm nicht mal mehr ähnlich. Ich verstand das alles nicht.
    - O Gott, o Gott, o Gott, ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Es tut mir ja so leid.
    Aber die Frau, den heulenden Jungen noch immer auf dem Arm, schimpfte weiter. Sie hörte gar nicht mehr auf. Ich sah, wie sich ihr Mund bewegte, aber die Worte ergaben keinen Sinn. Ich war wie hypnotisiert von diesem sich bewegenden Mund in ihrem roten Gesicht. Sie sah aus wie einer von diesen lebenden Hummern auf dem Markt, denen sie zwar mit einem Gummi die Scheren zugebunden haben, wo sich aber noch

Weitere Kostenlose Bücher