Lieber Osama
immer dieses böse kleine Maul bewegt.
Ich drehte mich um, nahm meine Krücke und die Tüte und ging aus dem Laden, klack-klack-klack, und die Frau hinter mir schrie noch immer Zeter und Mordio.
Jetzt denkst du wahrscheinlich, danach wäre es besser geworden. Aber Fehlanzeige, es wurde eher schlimmer. Mit pochendem Herzen ging ich die Lower Marsh Street hinab, und überall war mein Junge. Ich sah ihn beim Einsteigen in einen Bus, ich sah ihn in Geschäfte gehen oder auf der Straße. Und immer nur von hinten. Und immer hielt er sich an irgendeiner Frau fest, die ihn von mir fortzog. Er war jeder kleine Junge in London.
Ich weiß nicht, wie du das geschafft hast, Osama, aber du hast ihn nicht nur in tausend Stücke gerissen, sondern millionenfach neu zusammengesetzt. Und jedes Mal, wenn ich ihn sah, und egal, mit wem, ob mit Schickimicki-Muttis, Politessen oder kleinen Sekretärinnen beim Shoppen, nie hatte ich den Eindruck, auch nur eine von ihnen könnte so kochen, dass es ihm schmeckte. Stracciatella, hätte ich ihnen am liebsten zugerufen. Denn das mussten sie doch wissen. Dass er Stracciatella fast so sehr liebte wie seinen Dad. Aber es hat keinen Zweck, Leuten was zu sagen, wenn man selbst komplett durchgeknallt ist. Sie hören einem gar nicht zu.
Ich ging über die Westminster Bridge und sah den leeren Fluss darunter hindurchfließen. Ich zitterte. Wegen der Sperrung, so ganz ohne Autos, hätte es eigentlich ganz still und friedlich sein können, aber tief über den Houses of Parliament knatterten zwei Hubschrauber. Der Lärm war entsetzlich. Hubschrauber sind fiese, widerliche Dinger. Wie fette schwarze Wespen, die mit ihren glitzernden Augen alles ins Visier nehmen.
Vor mir gingen 2 Japaner. Ihre T-Shirts sagten 23 BECKHAM und OXFORD UNIVERSITY. Sie fingen an, die Helikopter zu filmen. Schnell ging ein Polizist auf sie zu. Man sah, dass ihm beigebracht worden war, zu gehen und nicht zu laufen. Er unterbrach die Filmaufnahmen und nahm ihnen die Videokamera ab. Die Japaner machten ein großes Theater und beschimpften den Polizisten auf Japanisch. Der Polizist nahm es mit Fassung. Er trug eine schusssichere Weste und einen dünnen schwarzen Schnurrbart. Ich ging an den dreien vorbei. Der Polizist roch nach Nylon. An seiner Jacke klemmte ein Funkgerät, aus dem eine Stimme permanent irgendwelche Befehle quäkte, wie ein verzogenes Kind. TANGO TANGO NEUN, sagte sie, BEGEBEN SIE SICH ZU SEKTOR SIERRA 6 UND WARTEN SIE DORT AUF WEITERE ANWEISUNGEN. Das alles machte mich ziemlich fickrig.
Auch der Parliament Square war für den Autoverkehr gesperrt, und man konnte mitten auf der Straße gehen, vorbei an den Bronzestatuen von Churchill, Smuts und all den anderen. Erst auf der Victoria Street durften wieder Autos fahren. Ich brauchte nicht weit zu laufen. Vor New Scotland Yard stand eine halbe Hundertschaft Polizei, die verhindern sollte, dass Leute dort parkten oder sich überhaupt in der Nähe von diesem riesigen Glaskasten aufhielten – oder diesem albernen sich drehenden Dreieck am Stiel, das immer so aussieht, als müsste es mal geputzt werden. Einer der Polizisten forderte mich auch sofort auf weiterzugehen, als ich dort ankam, aber ich ließ mich nicht abwimmeln.
- Ich habe einen Termin bei Superintendent Terence Butcher.
- Klar haben Sie das, sagte der Polizist. Und jetzt gehen Sie bitte weiter.
Er musterte mich von oben bis unten, und ich gebe zu, so mit Krücke und Asda-Tüte sah ich nicht gerade Vertrauen erweckend aus.
- Bitte, Constable. Mein Mann wurde am 1. Mai getötet. Terence Butcher war sein Vorgesetzter.
- In welcher Abteilung war denn Ihr Mann?, fragte der Polizist.
Ich sagte es ihm und gab ihm seine Personalnummer.
- Dürfte ich mal kurz in die Tüte sehen, Madam, sagte der Polizist.
Ich zeigte ihm, was ich in der Tüte hatte.
- Alles klar, Madam, sagte er. Warten Sie bitte einen Moment.
Er drehte sich weg und sprach in sein Funkgerät.
Nein, ich sage dir nicht, was sie mich alles gefragt haben, Osama. Und ich verrate dir auch nicht, wie ich schließlich in Terence Butchers Büro gekommen bin. Du kriegst von mir keinen Tipp, wie du Scotland Yard in die Luft jagen kannst. Viele Kollegen meines Mannes arbeiten noch immer dort. Ich sage dir nicht, wo Terence Butchers Büro ist. Ich sage dir nicht mal seinen wahren Namen. Terence Butcher muss reichen, der Name ist sowieso schon nah dran. Die meisten Polizeioberen haben ja ziemlich aussagekräftige Namen, nach Metzgerberufen wie
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