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Lieber Osama

Lieber Osama

Titel: Lieber Osama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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kleinen Zähnchen. Er hatte nicht einen Kratzer abbekommen. Ich sagte ihm, er könnte so viel Kartoffelchips essen, wie er wollte, aber er hatte keinen Hunger.
    Am Sonntagmorgen checkte ich früh aus dem Hotel aus und ging raus auf den Piccadilly Circus. Ich hatte einen von diesen Koffern mit Rollen dran, Petra hatte ihn mir geliehen. Den zog ich hinter mir her, und mein Junge saß obendrauf. Mit großen Augen und offenem Mund schaute er auf die riesigen elektrischen Reklametafeln, und sein Atem dampfte in der kalten Morgenluft. Der arme Kerl trug bloß Jeans und sein Auswärtstrikot von Arsenal.
    - Ist dir nicht kalt? Soll Mami dir einen Pulli besorgen?
    Der Junge schüttelte nur den Kopf. Er war viel zu aufgeregt, und mir ging es genauso. Im ersten Zeitungsladen, den ich fand, wollte ich uns den Sunday Telegraph kaufen. Ich konnte es nicht erwarten, unsere Geschichte ganz groß auf der ersten Seite zu sehen, unter dieser schönen Frakturschrift von Sunday Telegraph. Ich war so nervös, dass ich zitterte und mein Magen rumorte. Ich fragte mich, wie wohl die Schlagzeile lauten würde. Also, wenn es nach mir gegangen wäre, hätten sie ein riesiges Bild von der schwarzen Rauchsäule über dem Emirates Stadium gebracht und dazu bloß diese 3 Worte: SIE WUSSTEN ES. Also, so hätte ich es gemacht, aber was weiß ich schon? Wie gesagt, Osama, bei uns in der Familie wurde immer nur die Sun gelesen.
    Auf dem Piccadilly Circus waren auch schon ein paar Leute. Ich versuchte ihren Gesichtern abzulesen, ob sie die Nachricht schon gehört hatten, aber es schien nicht so. Wir kamen an einer Gruppe Mädels vorbei, die die ganze Nacht Party gemacht hatten und jetzt auf dem Weg nach Hause waren. Dann an ein paar Touristen, die mit ihrem Camcorder die große Coca-Cola-Werbung filmten und die Sperrballons mit den Gesichtern der toten Arsenal-Spieler drauf. Ich begegnete einem Verkehrspolizisten, der schon eher so aussah, als könnte er was wissen.
    - Guten Morgen. Haben Sie es schon gehört? Der Verkehrspolizist starrte mich an.
    - Was?, sagte er.
    - Das mit dem 1. Mai.
    - Keine Ahnung, was ist damit?, sagte er.
    - Haben Sie noch nicht in die Zeitung gesehen?
    - Nein, sagte er. Was soll denn sein?
    - Sie haben es gewusst. Sie wussten von dem Anschlag am 1. Mai, aber sie haben ihn trotzdem nicht verhindert.
    Einen Moment lang sah mich der Verkehrspolizist an: Ich mit meiner Adidas-Hose und dem Koffer. Dann schüttelte er den Kopf und lächelte.
    - Alles klar. Und sonst geht’s Ihnen gut?
    - Hey, ich bin nicht verrückt oder so. Das ist die Wahrheit.
    - Natürlich, natürlich, sagte er. Schönen Tag noch.
    Der Verkehrspolizist wandte sich ab und ging weiter Richtung Regent Street. Mein Junge sah mich an.
    - Mami, der Mann hat dir nicht geglaubt, sagte er.
    - Nein, mein Liebling, das hat er nicht. Aber das ist nicht seine Schuld. Er hat bloß die Zeitung noch nicht gelesen.
    Ich lächelte ihn an, und wir marschierten weiter nach Soho. Auf der Warwick Street holte ich einmal tief Luft und betrat einen Zeitungsladen.
    Da stand ich nun und starrte eine ganze Weile auf die Titelseite des Sunday Telegraph. Irgendwas stimmte da nicht, Osama. Das Bild zeigte nämlich bloß eine Häuserzeile mit lauter For-Sale-Schildern. Und die Schlagzeile ging: MIT DER IMMOBILIENBLASE PLATZT OFT DER TRAUM VON DEN EIGENEN VIER WÄNDEN: HAUSBESITZER ZITTERN VOR DEM PREISVERFALL. Ich schüttelte den Kopf. Ich kapierte nicht, was das mit dem 1. Mai zu tun haben sollte. Ich schaute oben nach dem Datum. Dann schlug ich die Zeitung auf und blätterte sie von vorn bis hinten durch. Nichts über den 1. Mai. Mir wurde ganz flau. Ich wünschte mir, aus diesem Albtraum aufzuwachen und noch im Hotelbett zu liegen. Aber genauso gut hätte ich mir wünschen können, gleich vor dem 1. Mai aufzuwachen, im Bett mit meinem Mann. Als ich an meinen Mann dachte, hätte ich am liebsten losgeschrien. Ich riss die anderen Zeitungen aus dem Ständer, um zu sehen, was sie schrieben.
    Aber überall dasselbe: VERKEHRSWERT VON EIGENHEIMEN IM KELLER. Außer im Sunday Mirror, da stand: KNACKEN SIE DEN MILLIONEN-JACKPOT. Dazugab es ein Foto von einer Familie, die auf Liegestühlen um einen Swimmingpool saß. Mami und Daddy. Von den Millionen mussten sie allerdings auch ein hübsches Sümmchen in die bunten Cocktails investiert haben. Und statt Gesichtern hatten sie kleine runde Spiegel aus Silberfolie, in denen man sich selber sah. Drunter die Worte: DAS KÖNNTEN SIE SEIN. Und im

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