Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine?: Mein Großvater, der Kunsthändler Paul Rosenberg (German Edition)
demonstrierte, der es hinter Jacques Chirac in den zweiten Wahlgang geschafft hatte. Eine Le-Pen-Generation später ist die Gefahr noch genauso groß … Es war heiß, wir waren unruhig und durstig, und ich war auf der Suche nach Mineralwasser, nicht auf Familienpilgerfahrt. Ich hatte also das Haus schon gesehen, ohne es zu sehen. Haussmann-Stil, schwerfällig und plump.
Dort hatte meine Großmutter als junges Mädchen gewohnt. Marguerite Loévi hat sich darin verlobt und es am 7. Juli 1914 morgens verlassen, um Madame Paul Rosenberg zu werden. Mein Urgroßvater Loévi, der Vater von Marguerite und ihren Geschwistern Michel, Marianne und Madeleine, war Weinhändler. Ich glaube nicht, dass die Familie irgendetwas von Kunst verstand, ob modern oder nicht. Und ich weiß nicht, wie diese aus dem Elsass stammende Familie und die erst vor einer Generation aus Bratislava immigrierten Rosenbergs miteinander in Berührung gekommen sind. Aber für meinen Urgroßvater zählte nur, dass seine Tochter einen Händler heiratete, wie er selbst es war: Statt Flaschen verkaufte er eben Rahmenmit Leinwänden und Klecksereien darauf! Offenbar erschreckte das die Familie nicht, und im Ehevertrag erhielt meine Großmutter eine großzügige Mitgift. Ich habe immer noch mit ihren Initialen bestickte weißleinene Tischdecken und Laken im Schrank, die nie benutzt worden sind und langsam zu Staub zerfallen.
Paul machte ihr ein paar Monate lang den Hof. Meine Großmutter war ein sehr schönes Mädchen und mein Großvater sehr verliebt. Zweimal in der Woche ließ er ihr von Moreux, einem an gesehenen Floristen im vornehmen XVI. Arrondissement, dessen Geschäft an der Place Victor-Hugo noch bis vor Kurzem existierte, Blumen schicken.
Er redete mit meiner Großmutter, die laut Familienüberlieferung keinerlei Ahnung davon hatte, über Kunst.
In ihrer Jugend hatte Margot eine schöne Stimme und sang Arien aus Opern und Operetten, die sie leidenschaftlich liebte. Sie hat mich als erste in
Die Lustige Witwe
,
Die schöne Helena
und
Faust
mitgenommen und mich mit ihrer Liebe zum Gesang angesteckt, sei er von Lehár, Offenbach oder Gounod.
Sie war einmal fröhlich und lustig gewesen, bevor sie später in Depressionen und Passivität verfiel. Wenn mein Vater sich dazu hinreißen ließ, Leute zu kritisieren, die über ihr Schicksal seufzten, womit er seine Schwiegermutter, später auch seine Frau, meine Mutter, meinte, sagte er: »Das kommt von der Loévi-Seite«, im Gegensatz zu seiner eigenen Mutter, Marguerite Schwartz, die von ganz anderem, außergewöhnlichem Schlag war und nach der Devise lebte: »Nicht jammern, die Zähne zusammenbeißen und durch!« Bei den Loévis biss man angesichts von Widrigkeiten nicht die Zähne zusammen, man jammerte viel und handelte wenig.
Für mich hingegen war Marguerite Rosenberg der Inbegriff einer liebevollen Großmutter. Nicht nur, weil jeder Spaziergang mit ihr unweigerlich beim Konditor endete. Nicht nur, weil ich mir bloß irgendein Buch oder eine Schallplatte zu wünschen brauchte, oder einen Vierfarbenkugelschreiber, von dem ich in den Sechzigerjahren monatelang träumte, um sie am nächsten Tag geschenkt zu bekommen. Sondern auch, weil sie eine mollige Frau war, an deren Busen kindlicher Kummer schnell verflog; weil sie mir alle Launen durchgehen ließ und weil ich, wenn ich bei ihr übernachten durfte, der mütterlichen Überwachung entwischte. Für mich war sie eine sehr sanfte und nette alte Dame, deren verhätschelte Enkelin ich war, wie meine Cousinen übrigens auch, die Töchter meines Onkels Alexandre, ihres geliebten Sohnes, aber da ich die älteste war, war ich im Vorteil.
Sie lebte sechs Monate in New York und sechs in Paris. Sie war sehr elegant, ging nie ungeschminkt aus dem Haus, trug Hut und Schleier – was ich geheimnisvoll fand – und lange schwarze Wildlederhandschule, sogar im Sommer, denn noch in den Sechzigerjahren durfte ihrer Ansicht nach eine Frau nicht mit bloßen Händen und unbedecktem Kopf ausgehen! Eine vorbildliche Dame also, die ich gerne schockierte, indem ich in unserem Gymnasiastenjargon mit ihr redete. Am liebsten beschäftigte sie sich damit, ihr Kontobuch zu führen, in ihrer großen, regelmäßigen Schrägschrift, und jeden Tag – jeden Tag! – an dasjenige ihrer Kinder zu schreiben, das sich gerade auf der anderen Seite des Atlantik befand. Wenn sie in den USA war, brachte die Post jeden Tag einen rot geränderten himmelblauen Briefumschlag, die tägliche
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