Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine?: Mein Großvater, der Kunsthändler Paul Rosenberg (German Edition)
Lektüre meiner Mutter. Viele dieser Briefe, von 1 bis 1000 nummeriert, habeich in Schuhschachteln im Möbellager wiedergefunden. Es war eine lange Folge von … Nichtigkeiten, winzigen Beschäftigungen, ein bisschen Klagen über die Einsamkeit und Bewunderung für ihre drei Enkelinnen, die sie unsinnig verwöhnte. Das Ganze gespickt mit Auslassungspünktchen, die für ihre Seufzer und ihre Niedergeschlagenheit standen.
Sie ging abends nie aus, hatte kaum Freunde, aber Geld, das sie nicht ausgab, außer für ihre Bequemlichkeit: Zimmermädchen, Köchin, Chauffeur. Sie brauchte sie keineswegs, aber sie hatte sich an diesen Lebensstil gewöhnt. Ich weiß noch, wie sie nach dem Abendessen immer zur Köchin ging und ihr Geld für die Einkäufe am nächsten Tag gab. Solange mein Großvater noch lebte, bat sie ihn jeden Abend um ein bisschen Geld, bevor sie in die Küche ging und das Essen für den nächsten Tag bestellte, und ich sah den ohnmächtigen Zorn meines Großvaters über diese belanglosen Ausgaben. Auch wenn ich vielleicht nicht ganz verstand, wie demütigend es ist, jeden Abend den Mann mit der Brieftasche um Geld zu bitten, der ebenfalls jeden Abend schlecht gelaunt protestiert, habe ich doch begriffen, dass eine Frau versuchen muss, nicht von ihrem Mann abhängig zu sein, und dass es besser für meine Großmutter gewesen wäre, wenn sie gearbeitet hätte.
Morgens und abends betete sie in ihrem Zimmer, freitagabends ging sie in die Synagoge. Besuchte man sie überraschend am Vormittag oder am späten Nachmittag, hob sie den Kopf von ihrem Gebetbuch, entzückt über den Familienbesuch, der sie aus ihrer Einsamkeit befreite. Von der Frömmigkeit abgesehen, war meine Mutter ihr sehr ähnlich, auch sie war ihr Leben lang einsam, nach dem Tod meines Vaters kam nur ich sie täglich besuchen, oder meine Kinder nach der Schule.
Meine Großmutter aß weder Schweinefleisch noch Meeresfrüchte. Ein paar jiddische Wörter hatte sie behalten, aber Hebräisch konnte sie weder sprechen noch lesen. Sie hatte in der Synagoge in der Rue de la Victoire ihren Platz, der schon ihrer Mutter und ihrer Großmutter gehört hatte, und beglückwünschte den charmanten jungen Rabbiner, Monsieur Attia, der die Shabbatgebete so schön sang, zu seiner goldenen Stimme.
Sie war – wie auch mein Großvater – die Verkörperung jener jüdischen Familien von vor dem Krieg, die man bis in die Sechzigerjahre offiziell »israelitisch« nannte, das heißt jüdischen Glaubens, und die, ob mehr oder weniger fromm, in der französischen Gesellschaft vollkommen assimiliert waren, auch nach dem Schock der Vierzigerjahre.
So war meine im Juli 1968 verstorbene Großmutter, so habe ich sie immer beschrieben – bis April 2010. Bis ich die Kartons aus dem Lager in Gennevilliers öffnete. Seitdem kann ich die Bilder kaum noch miteinander in Einklang bringen, so widersprüchlich sind sie.
Anscheinend hatte ihr Georges Wildenstein, Pauls größter Konkurrent und zugleich Geschäftspartner, schon früh den Kopf verdreht. Wie berichtet, schlossen sie 1918 einen Vertrag, nach dem Paul Picassos Vertretung in Frankreich und Europa, Wildenstein die in Amerika übernahm. Warum diese Verbindung 1932 abbrach und Paul Picassos weltweite Vertretung übernahm, hatte ich nie erfahren. Auch nicht, warum der bloße Name Wildenstein in unserer Familie tabu war.
Und nun stolpere ich auf einmal über die Geheimnisse, die in der Familie unter dem Deckmantel des Schweigensvergraben waren. Sie sind immer noch erschütternd. Soll ich sie verschweigen? Doch es ist nichts Schändliches, auch wenn es damals gewiss sehr verletzend war. Und warum sollte ich sie denn enthüllen? Sie betreffen ja niemanden mehr, nur noch Menschen, die längst tot sind; zudem verabscheue ich die Forderung nach vollkommener Transparenz, die im besten Fall voyeuristisch, im schlimmeren immer ein bisschen totalitär ist.
Andererseits können sie zum Verständnis der Psychologie meines misstrauischen, düsteren Großvaters beitragen und die Persönlichkeit meiner passiv gewordenen Großmutter, ihren vollständigen Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben erklären.
Da stehe ich nun mit hängenden Armen, vertrauliche Briefe in der Hand, und betaste sie immer noch unschlüssig.
Für meine Großeltern war es ein Drama. Für ihre Kinder, meine Mutter, meinen Onkel, ein Fleck auf der Ehe ihrer Eltern, eine heimliche Schande (meine Mutter hat mir bis zu ihrem Tod 2006 nie davon erzählt). Auch eine
Weitere Kostenlose Bücher