Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine?: Mein Großvater, der Kunsthändler Paul Rosenberg (German Edition)
offene Wunde, denn die Stimmung in der Rue La Boétie muss so bedrückend gewesen sein, dass meine Mutter mit fünfzehn oder sechzehn, das heißt 1932 oder 1933, eine Zeit lang zur jüngeren Schwester meiner Großmutter, Marianne Helft, und ihrer Familie kam; und Alexandre, der erst elf war, zur jüngsten Schwester meiner Großmutter, Madeleine. Familie, Bekannte, die Pariser Society, alle wussten Bescheid, und bei den Abendgesellschaften in Deauville wurde sicher über das offene Geheimnis gewitzelt.
Die Briefe in der Hand, drehe ich mich immer noch im Kreis, als wäre ich auf ein Dokument aus der Kabbala gestoßen, das mir die Finger verbrennt und mich bis ins siebte Glied verflucht, wenn ich es je wieder vergrabe.
Tatsächlich würde ich diese Geschichte gar nicht erwähnen, wenn ich in den Kartons aus dem Möbellager nicht ein herzzerreißendes Dokument gefunden hätte, das mein Großvater 1942 geschrieben hat, als sein Sohn Alexandre in der Afrika-Armee von General Leclerc diente, zwischen den Schlachten von Bir-Hakeim und El-Alamein. Paul wollte seinen Sohn besuchen, der ihm sehr fehlte. Wegen des beschwerlichen Flugs und der Gefahr, dass sein Flugzeug von den Deutschen abgeschossen würde, verzichtete er im letzten Moment auf die Reise. Aber bevor er sich dazu entschloss, hatte er in seiner gestochenen Schrift noch einen zehnseitigen Brief geschrieben, der in der Schublade eines Schreibtischs aus der 57. Straße in New York vergraben war. Der Schreibtisch zog mit ihm in die 79. Straße, aber die Schublade blieb verschlossen. Ein paar Monate nach seinem Tod, zu Beginn der Sechzigerjahre, stieß Alexandre beim Sichten der Papiere seines Vaters auf dieses Dokument, tippte es ab, damit man es besser lesen konnte, und schickte es meiner Mutter, die es erhielt, als meine Großmutter gerade zu einem ihrer Paris-Aufenthalte angekommen war. »Wenn Du diesen Brief liest, wirst Du weinen wie ich«, schrieb Alexandre seiner Schwester. »Wir haben ihn noch weniger gekannt, als wir glaubten. (…) Ich denke jedenfalls, Du wirst diesen Brief unserer Mutter zeigen müssen.« Hat meine Mutter das getan? Irgendetwas sagt mir, dass sie es nicht tat, und letztlich ist es auch besser, dass Margot in Frieden gestorben ist, 1968 in Paris, ein paar Wochen nach den Mai-Ereignissen.
Denn dieser Brief ist schmerzlich, er tut weh, und er verstört mich, als hätte ich eine Türe geöffnet, die besser verschlossen geblieben wäre. Er war für seine Frau und seinenSohn bestimmt, den er besuchen wollte, in dem Bewusstsein, dass er vielleicht nicht wiederkommen würde, sie sollten ihn nach seinem Tod erhalten und lesen. Es ist ein langer Rückblick auf sein Leben, das Leben, das er sich für seine Familie wünschte, und seinen Kummer, dass er die Frau, die er anbetete, nicht hatte glücklich machen können.
»Meine Jugend war nicht so glücklich wie die meiner Kinder«, beginnt er. »Aber als ich Dir begegnet bin, meine liebe Margot, hoffte ich, endlich das Glück in Händen zu halten und in Dir die Gefährtin gefunden zu haben, die ich liebte und deren Leben zu verschönern ich mich bemühen wollte.«
Er führt ihre Enttäuschung darauf zurück, dass der Erste Weltkrieg, der gleich nach ihrer Hochzeit im Juli 1914 ausbrach, sie um die sorglosen ersten Jahre einer Ehe brachte, da Paul an die Front musste. Er rechtfertigt sich lange für seine Nervosität, seine Bemühungen, sich zu etablieren, und sein Bedürfnis, Geld zu verdienen, um der Familie ein bequemes Leben zu ermöglichen. »Aber ach, je mehr ich arbeitete, je mehr Geld ich verdiente, desto mehr wurde ich ein Sklave der Geschäfte, an sie gefesselt wie Sisyphos an seinen Felsblock.«
Er hatte immer Angst vor der Zukunft und neigte von Natur aus zur Sparsamkeit. Aber er war offenbar genauso bemüht, den Geschmack seiner Frau am Luxus zu befriedigen. Sie hatte das Modell der Wildensteins vor Augen, die auf großem Fuß lebten, und das muss sie beeindruckt haben.
Dann kommen der Groll und die Eifersucht, die in den späteren Jahren noch immer präsent waren. »Ach, Du ließest mir nicht die Zeit, meinem Bauwerk ein Dach zu geben, die bösen Ratschläge einer Schlange müssen Dir ins Ohr gedrungen sein. Man hat Dich verformt, meine Handlungen lächerlich gemacht«,schreibt mein Großvater in bitterem Bibelpredigtton. »Ich habe mir viel vorzuwerfen, ich hätte mich weniger um meine Geschäfte kümmern sollen und mehr um Dich. (…) 1923 begann mein Leben zum Martyrium zu werden,
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