Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine?: Mein Großvater, der Kunsthändler Paul Rosenberg (German Edition)
zu schätzen wusste oder gar bewunderte, auch nicht den unglaublichen Wirrwarr in diesem Haus, das ich vor allem schmutzig und unordentlich fand. Picassos Zimmer war eine regelrechte Rumpelkammer, und ich verstand nicht, warum meine sonst so pingelige Mutter angesichts dieser Räume, die im Chaos und Staub versanken, in Verzückung geriet. Die Kopfstütze von Picassos Ehebett hatte kein Handwerker fabriziert: dazu diente eines seiner Gemälde, das mit dem Rücken nach vorn an der Wand stand, damit die Kopfkissen am Keilrahmen, nicht an der Leinwand lehnten.
Ich rannte am liebsten mit Jacquelines Tochter Catherine und Claude, dem Sohn von Picasso und Françoise Gilot, durch den Garten. Wir kletterten auf die berühmte Bronze-Ziege, von der ein Exemplar heute im Hof des New Yorker MoMA steht. Die Bronzestatue daneben, das
seilhüpfende kleine Mädchen
, mochte ich weniger, die Skulptur war komplizierter als die Ziege, und vor dem leicht nach innen gedrehten einen Schuh grauste mir ein bisschen, er kam mir wie eine Verkrüppelung vor.
Damals, in den Sechzigerjahren, der Zeit der Simca Arondes und Renault Dauphines, enthielten die Evian-Flaschen noch einen Liter, waren aus Glas und mit einer Metallkapsel verschlossen. Was mich bei den Picassos entzückte, war eine Vitrine, deren Inhalt ausnahmsweise auch für Kinder verständlichwar: Sie enthielt Dutzende dieser Eviandeckel, gepresst, verdreht, in magische Tiere oder Ungeheuer verwandelt von dem Mann, der einen Fahrradlenker, einen Rechen oder einen Flaschenverschluss in die Hand nahm und sie zu seltenen Objekten machte, vor denen die Besucher in Verzückung gerieten.
Ich gebe zu, ich habe damals öfter gedacht – wie die Kunden, die meinen Großvater beschimpften, als er 1920 in der Vitrine seiner Galerie Kritzeleien ausstellte, »die (ihres) Sohnes in der Vorschule würdig waren« –, dass man um die kleinsten schöpferischen Gesten Picassos zu viel Aufhebens machte. Dabei war die Zeit der Vorkriegs-Verständnislosigkeit längst vorbei, sie hatte einer vorbehaltlosen Bewunderung für diesen Maler und die zeitgenössische Kunst generell Platz gemacht.
Schließlich tauchen auch jüngere Bilder aus meinem Gedächtnis auf: Picasso, der nicht mehr ausging, in seiner blauweiß karierten Jacke, sein durchdringender Blick, der mich einschüchterte, sein spanischer Akzent, sein ausgezeichnetes Französisch und seine mangelhafte Orthografie, und schließlich seine Zuneigung für meine Mutter.
Als mich meine Eltern nach ein paar Jahren, in denen ich dem Besuch bei dem großen Maler entgangen war, wieder mitnahmen, fiel ihm auf, dass ich größer geworden war. »Ich werde deine Tochter malen«, sagte er zu meiner Mutter, die selig war. »Ich sehe, dass sie überall Augen hat!« Ich schrie: »Nein!« und lief weg, erschreckt von der Vorstellung, Augen mitten im Gesicht zu haben, eine »verzerrte Fresse« (wie ich die Porträts von Dora Maar damals nannte, die nie meine Lieblingsbilder waren). Für eine Vierzehnjährige war diese Malerei schwer zu begreifen, für mich war Picasso damals kein Gigant des 20. Jahrhunderts, sondern ein Gesichterdieb. Hätte er das Vorhabenausgeführt, wenn ich nicht weggelaufen wäre? Wahrscheinlich nicht, aber wenn ich auch kein ruhmreiches Porträt bekommen habe, bleibt mir doch wenigstens ein Foto mit ihm zusammen, vor seinem Haus in Mougins, als ich zwanzig Jahre alt war. Ich mag seinen Blick auf diesem langsam verblassenden Foto, kraftvoll und magnetisch wie der, den er sich in seinen ersten Selbstporträts um die Jahrhundertwende gab, und der tief in die Seele dringt, um geheimnisvolle Züge daraus zu schöpfen.
1 So bezeichnet ihn Michael Fitzgerald, op. cit.
2 Pierre Nahon, op. cit.
3 So Michael Fitzgerald, op.cit.
4 Zitiert nach Michael Fitzgerald, op.cit.
5 Familienarchiv
6 Roland Penrose,
Picasso, His Life and Work,
Berkeley und Los Angeles 1958 (dt.:
Picasso: Leben und Werk,
München 1961)
7 Alle in diesem Kapitel zitierten Briefe befinden sich im Picasso-Archiv.
8 Zitiert nach Michael Fitzgerald
9 In Euro umgerechnet, bleiben sich die Beträge kurioserweise gleich.
10 Familienarchiv
11 Pierre Daix,
Dictionnaire Picasso,
Paris 1995
BOULEVARD MAGENTA
N UMMER I , Ecke Place de la République. Auf der Demonstrationsroute. Am 1. Mai 2002 standen wir zu Hunderttausenden stundenlang vor dieser Tür und kamen nicht vorwärts, weil die Menge so dicht war, die gegen Jean-Marie Le Pen
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