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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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ich weiß, noch nie begegnet war. Sie muss völlig benommen umhergegangen sein, überfordert von ihrem eigenen Komplott. Ganz zu schweigen von den immer wieder gekreuzten Fingern und den Stoßgebeten, in den Tagen davor, als die Gefahr bestand, dass Onkel Jasper zufällig davon erfuhr. Wenn er zum Beispiel der Musiklehrerin auf der Straße begegnete und sie ihn mit ihrem Dank und ihrer Vorfreude überschüttete.
     
     
    Die Musiker waren nach dem Konzert doch nicht so erschöpft wie erwartet. Oder so niedergeschlagen von dem geringen Publikumszuspruch im Rathaussaal, der wahrscheinlich keine Überraschung war. Die Begeisterung der Gäste von nebenan und die Wärme des Wohnzimmers (im Rathaussaal hatte empfindliche Kühle geherrscht) sowie das warme Kirschrot der Samtvorhänge, die bei Tageslicht ein stumpfes Kastanienbraun zeigten, aber nach Einbruch der Dunkelheit festlich aussahen – all diese Dinge müssen ihnen Auftrieb gegeben haben. Die unfreundliche Düsternis draußen bildete einen Kontrast dazu, und der Kaffee erwärmte die von weit her gekommenen und vom Wetter nicht verwöhnten Fremden. Ganz zu schweigen von dem Sherry, der auf den Kaffee folgte. Sherry oder Portwein in Kristallgläsern der korrekten Form und Größe, dazu mit Kokosraspel bestreute Petits Fours, Butterkekse in Stern- oder Mondsichelform und Schokoladenwaffeln. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Meine Eltern veranstalteten Feste, auf denen die Gäste Chili aus Tonnäpfen aßen.
    Tante Dawn trug ein sittsam geschnittenes Kleid aus fleischfarbenem Krepp. Ein Kleid, wie eine ältere Frau es hätte tragen können und an der es etwas verspielt, aber korrekt gewirkt hätte, doch meine Tante sah darin aus, als nähme sie an einer etwas gewagten Festivität teil. Die Nachbarin hatte sich auch feingemacht, vielleicht ein bisschen mehr, als der Anlass erforderte. Der kleine dicke Mann, der Cello gespielt hatte, trug einen schwarzen Anzug, in dem er nur wegen der Fliege nicht aussah wie ein Leichenbestatter, und die Pianistin, die seine Frau war, trug ein schwarzes Kleid, das für ihre üppige Figur zu viele Rüschen hatte. Aber Mona Cassel leuchtete wie der Mond in einer gerade geschnittenen Robe aus silbrigem Material. Sie war grobknochig, mit großer Nase ganz wie die ihres Bruders.
    Tante Dawn hatte offenbar das Klavier stimmen lassen, sonst hätten sie sich nicht damit abgegeben. (Und falls es seltsam anmutet, dass überhaupt ein Klavier im Haus war, im Hinblick auf die bald zutage tretenden Ansichten meines Onkels zum Thema Musik, so kann ich nur sagen, dass früher in jedem Haus mit einem bestimmten Lebensstil eines stand.)
    Die Nachbarin wünschte sich
Eine kleine Nachtmusik
, und ich unterstützte sie angeberisch. Tatsächlich kannte ich die Musik gar nicht, sondern nur den Titel aus dem Deutschunterricht an meiner alten Schule in der Großstadt.
    Dann bat der Nachbar um ein Stück, und es wurde gespielt, und als es zu Ende war, entschuldigte er sich bei meiner Tante für seine Unhöflichkeit, sich mit seinem Wunsch vorgedrängt zu haben, bevor die Gastgeberin Gelegenheit hatte, ihren zu äußern.
    Tante Dawn sagte, nein, nein, man solle keine Rücksicht auf sie nehmen, ihr gefiele alles. Dann versank sie in tiefem Erröten. Ich weiß nicht, ob ihr überhaupt etwas an der Musik lag, aber es sah ganz danach aus, als regte sie irgendetwas auf. Vielleicht nur, persönlich verantwortlich zu sein für diese Augenblicke, diesen uneingeschränkten Genuss?
    Konnte es sein, dass sie es vergessen hatte – wie konnte sie das vergessen haben? Die Jahresversammlung der Kreisärzte mit der Wahl des Vorstandes und dem Abendessen war normalerweise um halb elf zu Ende. Jetzt war es elf.
    Zu spät, zu spät schauten wir beide auf die Uhr.
     
     
    Jetzt geht die Windfangtür auf, dann die Tür zur Diele, und ohne die übliche Pause dort, um Stiefel, Wintermantel und Schal abzulegen, kommt mein Onkel ins Wohnzimmer marschiert.
    Die Musiker, mitten in einem Stück, hören nicht auf zu spielen. Die Nachbarn begrüßen meinen Onkel fröhlich, aber mit Rücksicht auf die Musik leise. Er sieht mit dem immer noch zugeknöpften Mantel, dem langen Schal um den Hals und den Stiefeln an den Füßen doppelt so groß aus wie normal. Er zieht ein finsteres Gesicht, schaut aber niemanden an, nicht einmal seine Frau.
    Und sie schaut ihn nicht an. Sie hat angefangen, die Teller auf dem Tisch neben ihr einzusammeln, sie stellt einen auf den anderen und bemerkt nicht

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