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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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glaube nicht, dass Tante Dawn dieser Gedanke kam – oder wenn doch, so ließ sie sich nichts davon anmerken. Sie zeigte nur Zerknirschung.
     
     
    Zu jener Zeit hatte Tante Dawn noch ein weiteres Problem, eines, das ich erst später verstand. Nämlich das Problem mit dem Ehepaar von nebenan. Die beiden waren ungefähr zur selben Zeit eingezogen wie ich. Er war der Kreisschulinspektor, sie Musiklehrerin. Sie waren vielleicht im selben Alter wie Tante Dawn, jünger als Onkel Jasper. Sie hatten ebenfalls keine Kinder, was sie frei für Geselligkeiten machte. Außerdem waren sie in dem Stadium, wo man sich einen neuen Bekanntenkreis erobert und die Aussichten hell und freundlich sind. In diesem Geist hatten sie Tante Dawn und Onkel Jasper zu einem Umtrunk zu sich gebeten. Das Gesellschaftsleben meiner Tante und meines Onkels hielt sich in sehr engen Grenzen, was die ganze Stadt wusste und respektierte, daher hatte meine Tante keine Übung darin, nein zu sagen. Und so fanden sie sich zu Getränken und Geplauder ein, wobei ich mir vorstellen kann, dass Onkel Jasper es genoss, ohne dass er meiner Tante den Schnitzer verzieh, die Einladung angenommen zu haben.
    Jetzt steckte sie in der Zwickmühle. Ihr war klar, wenn Leute einen in ihr Haus eingeladen hatten und man hingegangen war, dann wurde erwartet, dass man die Einladung erwiderte. Alkoholisches für Alkoholisches, Kaffee für Kaffee. Keine Mahlzeit erforderlich. Aber sie wusste nicht einmal, wie sie diese geringen Anforderungen erfüllen sollte. Mein Onkel hatte nichts an den Nachbarn auszusetzen gehabt – es war ihm nur absolut zuwider, Leute im Haus zu haben.
    Dann ergab sich aus der Neuigkeit, die ich ihr überbrachte, eine mögliche Lösung des Problems. Das Trio aus Toronto – natürlich mit Mona – trat im Rathaussaal nur an einem einzigen Abend auf. Und wie es der Zufall wollte, war das genau der Abend, an dem Onkel Jasper außer Hauses war und erst spät heimkommen sollte. Es war der Abend der Allgemeinen Jahresversammlung der Kreisärzte mit anschließendem Abendessen. Kein Bankett – die Ehefrauen waren nicht eingeladen.
    Die Nachbarn hatten vor, in das Konzert zu gehen. Das mussten sie auch, bei dem Beruf der Frau. Aber sie erklärten sich bereit, danach vorbeizuschauen, auf einen Kaffee und einen Imbiss. Und um – und damit übernahm sich meine Tante – die Mitglieder des Trios kennenzulernen, die auch auf ein paar Minuten vorbeischauen würden.
    Ich weiß nicht, wie viel meine Tante den Nachbarn von der Beziehung zu Mona Cassel erzählte. Wenn sie auch nur ein bisschen gesunden Menschenverstand hatte, nichts. Und davon hatte sie eigentlich eine ganze Menge. Sie erklärte ihnen, da bin ich sicher, warum der Doktor an diesem Abend nicht dabei sein konnte, aber sie wäre nie so weit gegangen, ihnen zu sagen, dass sie das Treffen vor ihm geheim halten mussten. Und was war damit, es vor Bernice geheim zu halten, die zur Abendbrotzeit nach Hause ging und bestimmt etwas von den Vorbereitungen mitbekommen würde? Ich weiß es nicht. Und vor allem weiß ich nicht, wie Tante Dawn den Musikern die Einladung übermitteln wollte. Hatte sie mit Mona die ganze Zeit über in Verbindung gestanden? Ich glaube eher nicht. Sie war bestimmt nicht dazu fähig, meinem Onkel über einen langen Zeitraum hinweg etwas vorzumachen.
    Ich stelle mir vor, sie wurde einfach leichtsinnig und schrieb einen kurzen Brief und brachte ihn in das Hotel, in dem das Trio übernachten würde. Eine Adresse in Toronto hatte sie wohl nicht.
    Sogar als sie das Hotel betrat, muss sie sich gefragt haben, von wem sie dabei gesehen wurde, und gefleht haben, dass sie nicht an den Empfangschef geriet, der ihren Mann kannte, sondern an die neue junge Frau, die aus dem Ausland kam und vielleicht gar nicht wusste, dass sie die Frau des Arztes war.
    Sie hatte den Musikern zu verstehen gegeben, dass sie nicht von ihnen erwartete, länger als nur für eine kleine Weile zu bleiben. Konzerte sind anstrengend, und sie mussten sich am nächsten Morgen auf den Weg in eine andere Stadt machen.
    Warum nahm sie das Risiko auf sich? Warum die Nachbarn nicht allein empfangen? Schwer zu sagen. Vielleicht hatte sie das Gefühl, sie sei nicht fähig, allein eine Unterhaltung zu bestreiten. Vielleicht wollte sie sich vor diesen Nachbarn ein wenig brüsten. Vielleicht – obwohl ich das kaum glaube – ging es ihr um eine kleine Geste der Freundschaft oder Annäherung gegenüber der Schwägerin, der sie, soweit

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