Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
lachte, als sei es eine absurde Dreistigkeit, das zu behaupten. »Ich hab die Ausbildung abgebrochen.«
»Hast du so Onkel Jasper kennengelernt?«
»Nein, nein. Da hatte er sein Studium schon lange abgeschlossen. Ich habe ihn kennengelernt, als ich eine schwere Blinddarmentzündung hatte. Ich war bei einer Freundin zu Besuch – ich meine, bei der Familie einer Freundin hier oben –, und ich wurde ernsthaft krank, wusste aber nicht, was es war. Er hat es richtig erkannt und den Blinddarm herausgenommen.« Dabei errötete sie noch tiefer als gewöhnlich und fügte hinzu, ich sollte vielleicht nicht ins Schlafzimmer gehen, ohne um Erlaubnis zu fragen. Sogar ich begriff, das bedeutete, überhaupt nicht.
»Und ist deine Freundin noch hier?«
»Ach, weißt du. Sobald man heiratet, hat man nicht mehr so wie vorher Freundinnen.«
Um die Zeit, als ich das auskundschaftete, entdeckte ich auch, dass Onkel Jasper nicht völlig ohne Verwandte war, wie ich angenommen hatte. Er hatte eine Schwester. Sie war ebenfalls in der Welt erfolgreich gewesen, zumindest für meine Begriffe. Sie war Musikerin, eine Geigerin. Sie hieß Mona. Oder so nannte sie sich, obwohl sie auf den Namen Maud getauft war. Mona Cassel. Ich erfuhr zum ersten Mal von ihrer Existenz, nachdem ich schon ein halbes Schuljahr in der Stadt verbracht hatte. Als ich eines Tages von der Schule nach Hause ging, sah ich im Schaufenster des Zeitungsbüros ein Plakat von einem Konzert, das in zwei Wochen im Rathaussaal stattfinden sollte. Drei Musiker aus Toronto. Mona Cassel war die große weißhaarige Dame mit der Geige. Als ich nach Hause kam, erzählte ich Tante Dawn von der Namensgleichheit, und sie sagte: »Ach ja. Das muss die Schwester deines Onkels sein.«
Dann fügte sie hinzu: »Sag hier im Haus nichts davon.«
Nach einem Augenblick fühlte sie sich offenbar verpflichtet, mir mehr darüber mitzuteilen.
»Dein Onkel mag solche Musik nicht besonders, weißt du. Symphonische Musik.«
Und noch mehr.
Sie sagte, dass die Schwester ein paar Jahre älter war als Onkel Jasper und dass etwas passiert war, als sie noch Kinder waren. Irgendwelche Verwandte hatten gemeint, dass dieses Mädchen fortmusste, um eine bessere Chance zu bekommen, weil sie so musikalisch war. Also wuchs sie woanders auf, so dass Bruder und Schwester nichts miteinander gemein hatten, und das war wirklich alles, was sie – Tante Dawn – darüber wusste. Sie wusste nur, es würde meinem Onkel nicht gefallen, dass sie mir überhaupt davon erzählt hatte.
»Er mag diese Musik nicht?«, fragte ich. »Welche Musik mag er denn?«
»So altmodischere, könnte man sagen. Jedenfalls keine klassische.«
»Die Beatles?«
»Ach du meine Güte.«
»Doch nicht Lawrence Welk?«
»Wir sollten nicht darüber urteilen. Ich hätte nicht davon anfangen dürfen.«
Ich setzte mich darüber hinweg.
»Was gefällt
dir
denn eigentlich?«
»Mir gefällt so ziemlich alles.«
»Dir muss doch einiges besser gefallen als anderes.«
Sie gewährte mir nur eine Spielart ihres häufigen kurzen Lachens. Diesmal war es das nervöse Lachen, nicht viel anders, aber besorgter als zum Beispiel das Lachen, mit dem sie Onkel Jasper fragte, wie ihm das Abendessen schmeckte. Er äußerte sich fast immer beifällig, aber mit Einschränkungen. Ganz gut, aber ein bisschen zu pikant oder ein bisschen zu fade. Vielleicht ein wenig zu lange oder auch zu kurz gekocht. Einmal sagte er: »Gar nicht«, und verweigerte jede Begründung, und das Lachen verschwand in ihren zusammengepressten Lippen und ihrer heroischen Selbstbeherrschung.
Was mag das für ein Gericht gewesen sein? Ich möchte sagen, eins mit Curry, aber vielleicht, weil mein Vater Curry nicht mochte, obwohl er daraus kein Drama machte. Mein Onkel stand vom Tisch auf und bereitete sich ein Sandwich mit Erdnussbutter zu, mit so viel demonstrativem Getue, dass es einem Drama gleichkam. Was Tante Dawn auch aufgetragen haben mag, es war bestimmt keine absichtliche Zumutung. Vielleicht nur etwas ein wenig Ungewöhnliches, das in einer Zeitschrift gut ausgesehen hatte. Und er hatte, wie ich mich erinnere, alles aufgegessen, bevor er sein Urteil abgab. Also trieb ihn nicht der Hunger, sondern das Bedürfnis, etwas absolut Vernichtendes zu verkünden.
Heute kommt mir der Gedanke, dass an jenem Tag im Krankenhaus etwas schiefgegangen sein konnte, jemand war gestorben, der eigentlich nicht hätte sterben dürfen – vielleicht lag es überhaupt nicht am Essen. Aber ich
Weitere Kostenlose Bücher